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Sabine Benzer (Hg.): Kulturelles Erbe. Was uns wichtig ist! #

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Sabine Benzer (Hg.): Kulturelles Erbe. Was uns wichtig ist! Beiträge von Aleida Assmann, Konrad Paul Liessmann, Sharon Macdonald, Felipe Polanía Rodríguez, Franz Schuh, Bernhard Tschofen, Ruth Wodak. Folio Verlag Wien - Bozen. 161 S., € 16,-

Kunst, Kunsthandwerk, Architektur, Archive, Traditionen, Rituale, überliefertes Wissen - Kulturelles Erbe, materiell wie immateriell, ist für eine Gesellschaft von immenser Bedeutung. Es dient der Identifikation mit einem kollektiven Selbstbild. Es stellt den Bezug zur Vergangenheit her, muss in der Gegenwart interpretiert und für die Zukunft bewahrt werden. Seine Erschließung und Vermittlung gehören zu den maßgeblichen gesellschaftlichen Aufgaben, schreibt Sabine Benzer im Vorwort. Die Kunsthistorikerin und Kulturmanagerin ist Geschäftsführerin des "Theater am Saumarkt" in Feldkirch. Dieses pflegt partizipative Formen von Kulturarbeit, sieht sich als Kooperationspartner für Vorarlberger Kulturschaffende und -einrichtungen. Im Gespräch mit ExpertInnen beleuchtet die Autorin die Bedeutung des kulturellen Erbes für die Gesellschaft. Gemeinsam suchen sie nach einer treffenden Definition, die möglichst inklusiv und vielfältig ist.

Kulturelles Erbe wird im englischen mit Heritage, im Französischen als Patrimoine bezeichnet. 1972 verabschiedete die UNESCO - eine 1945 gegründete Sonderorganisation der Vereinten Nationen - die Konvention zum Schutz des Kultur- und Naturerbes, die 193 Länder unterzeichneten. Zunächst ging es um die materielle Überlieferung. Manche asiatischen und afrikanischen Staaten kritisierten die Beschränkung auf Monumente. Daher folgte 2003 die Konvention zum Schutz des immateriellen Kulturerbes, Intangible Cultural Heritage. 178 Vertragsstaaten unterzeichneten sie. Österreich zählt seit 2009 dazu, das Nationale Verzeichnis enthält 124 Elemente.

Das vorliegende Buch beschäftigt sich mit der Theorie und Philosophie des Kulturerbebegriffs. Es herrscht keineswegs Einverständnis darüber, "was uns wichtig ist". So schreibt die einflussreiche deutsche Kulturwissenschaftlerin Aleida Assmann, deren Beitrag an der Spitze steht: Die Frage, mit welchen Texten man sich identifiziert, welche lebensprägend und orientierend sein sollen, gilt nicht mehr als ein für alle Mal durch die Tradition vorgegeben, sondern als etwas, das immer neu … ausgehandelt werden muss. Nach ihrer Beobachtung war "Erbe" lange ein suspekter Begriff. Weil er Kontinuität betont, galt er als wertkonservativ und wurde mit der politischen Rechten in Verbindung gebracht. Schon Karl Marx sah ihn als Ballast, Fessel und "Alp". Inzwischen ist an den Universitäten ein neues Fach mit dem Namen Critical Heritage Studies entstanden und der "Erbe"-Begriff nicht mehr negativ besetzt. Mit der geänderten Bedeutung ging eine Trivialisierung einher, zum Beispiel von Seiten der Politik und Tourismuswirtschaft. Kultur sei aber, so Assmann, viel umfassender wahrzunehmen, nicht nur als aktuell vorhandene Kultur, sondern auch als gefährdetes Kulturerbe, das zu schützen ist und für dessen Nachhaltigkeit etwas getan werden muss. Kulturerbe ist nicht einfach ganz selbstverständlich da.

Diese Meinung teilt der Philosoph, Essayist und Kulturpublizist Konrad Paul Liessmann - konkret im Hinblick auf das Hochhausprojekt am Heumarkt. Dieses droht, den seit Jahrhunderten berühmten "Canaletto-Blick" vom Belvedere auf die Silhouette Wiens zu zerstören. Die Blickachse trifft so sehr das Wesen dieser Stadt, dass man sie erhalten sollte, wie immer sich die Stadt auch verändert und entwickelt. … Die Stadt entwickelt sich sicher nicht weniger gut, wenn dieser Turm nicht gebaut wird.

Klar, dass das nicht mein Projekt ist, gibt auch der Schriftsteller Franz Schuh zu Protokoll. Denn wenn ein bestimmtes Areal einmal zerstört ist, ist es nicht mehr revitalisierbar. Das kulturelle Erbe lässt keine Scherze zu. Spielen kann man sich damit nicht. Auf die Frage, ob er sich "Reklame für das kulturelle Erbe" vorstellen könnte, sagt der Essayist: Ich halte es für möglich, dass kein geringer Teil dessen, was wir für Kunst halten, ein Produkt gelungener Reklame ist. Aber dann wäre die Reklame die eigentliche Kunst.

Über die Zusammenhänge zwischen kulturellem Erbe und Sprache hat Sabine Benzer mit der Sprachwissenschaftlerin Ruth Wodak diskutiert. Sie betont: Referenzpunkte, wie Literatur … sind nicht ein für alle Mal fixiert, sondern großen Veränderungen unterworfen, insbesondere aufgrund von Kontinuitäten und Brüchen in dem nationalen Narrativ. Es stellt sich in diesem Zusammenhang auch die Frage, wie divers eine Gesellschaft ist und ob verschiedene kulturelle Erbschaften sozusagen zusammentreffen, was in einer Migrationsgesellschaft offensichtlich der Fall ist.

Migration und Kultur ist auch das Thema von Felipe Polanía Rodríguez, politischer Aktivist und Kunstvermittler in Zürich. Er sagt: Kulturelles Erbe ist ein relativ neues und nicht einheitliches Konzept. Die Frage nach dem kulturellen Erbe ist aus meiner Sicht vor allem eine Frage der Definitionsmacht. Die Definition des kulturellen Erbes, besonders des Staates, umfasst bereits die Definition von Identität (und Zugehörigkeit).

Die britische Ethnologin und Museologin Sharon Jeannette Macdonald ist Expertin für Difficult Heritage. Als schweres und schwieriges Erbe gilt jenes der NS-Zeit, oder - wie gerade entdeckt wird -, die Kolonialgeschichte. Vieles wurde bereits zerstört und nicht alle Reste des schrecklichen Erbes wären zu bewahren: Ich persönlich bin nicht der Meinung, dass absolut alles erhalten werden muss. Von der Herausgeberin auf die Problematik des Hitler-Geburtshauses in Braunau angesprochen, antwortet Sharon Jeannette Macdonald: Es gäbe gute Gründe, es abzureißen.

Der Kulturwissenschaftler und Europäische Ethnologe Bernhard Tschofen lehrt und forscht an der Universität Zürich. Er hat schon 2007 auf einer Tagung über Heritage eine Hochkonjunktur des kulturellen Erbes festgestellt. Mit einem Zitat des amerikanischen Historikers David Lowenthal meint er: Heritage is all around us. Inzwischen macht Bernhard Tschofen eigentlich gar keine Forschung mehr, die nicht auch Kulturerbeforschung ist, weil man dem Phänomen selbst nicht mehr entgehen kann. Das trifft sich mit einer Feststellung von Sharon Jeannette Macdonald: Es sind gerade wissenschaftliche Disziplinen wie die Europäische Ethnologie und ihre Fülle an Forschungen, die aufzeigt, wie Leute mit der Vergangenheit umgehen und wie sich dieser Umgang verändern kann.

hmw