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Wolfgang Förster: 2000 Jahre Wohnen in Wien#

Bild 'Förster'

Wolfgang Förster: 2000 Jahre Wohnen in Wien. Vom keltischen Oppidum bis zum Wohnquartier der Zukunft. Wohnen als Sozialgeschichte. Jovis Verlag, Berlin. 188 S., ill., € 32,-

Das erste Bild im Buch zeigt ein Holzhaus - die Rekonstruktion eines Keltenhauses in Schwarzenbach (Niederösterreich). Ähnliche Häuser wurden im Oppidum Vindobona gefunden. Eines der letzten Bilder ist ebenfalls ein Holzhaus - ein Mikrohaus auf Rädern, aufgenommen 2018. Dazwischen liegen rund zwei Jahrtausende Bau-, Kultur- und Sozialgeschichte. Der Architekt und Politologe Wolfgang Förster geht der Frage nach, wie die Entwicklung des Wohnens die soziokulturelle Geschichte einer Stadt widerspiegelt. Die Texte (auch in englischer Übersetzung) und die meist doppelseitigen Fotos bilden ein aussagekräftiges Ganzes.

Archäologische Funde belegen die Geschichte des Wohnens in Wien seit 5000 Jahren. Größere Siedlungen aus dem 1. vorchristlichen Jahrhundert lassen sich auf dem Leopoldsberg, Bisamberg und beim heutigen Rochusmarkt im 3. Bezirk nachweisen. Um 100 n. Chr. bauten die Römer Vindobona zum befestigten Castell aus. Südlich des Militärlagers (in der Gegend Graben - Heldenplatz) lebten die Angehörigen der Legionäre, 8.000 - 12.000 Menschen, in der Lagervorstadt. Östlich (im 3. Bezirk) befand sich die Zivilstadt mit 20.000 Einwohnern, die seit der Erhebung zum Municipium (212) das römische Bürgerrecht besaßen. Das Römermuseum mit den Ruinen am Hohen Markt gibt Einblick in die Wohnkultur einer multikulturellen Gesellschaft.

Im 15. Jahrhundert war Wien (nach Köln) die zweitgrößte Stadt im Heiligen Römischen Reich. Innerhalb der Stadtmauern lebten 20.000 Einwohner, zu viele für den zur Verfügung stehenden Platz. Der Titel des folgenden Kapitels sagt alles: "Glanz und Elend in der barocken Residenzstadt". Unter Maria Theresia gab es erstmals Hausnummern. Laut ihrer Volkszählung hatten Innenstadt und Vorstädte (die heutigen Bezirke 2 bis 9) 175.000 Bewohner, davon 120.000 in den Vorstädten. Anfang des 19. Jahrhunderts wurden die bürgerlichen Vorstädte Orte der kulturellen Entwicklung. Stichworte zu dieser Epoche: Wiener Kongress, Vormärz, Biedermeier, "kleine Eiszeit", Revolutionsjahr 1848. Ärmere Personen waren zu häufigen Übersiedlungen gezwungen, Proletarier siedelten sich in den Vororten (den heutigen Bezirken 10 bis 23) an. 1857 befahl Franz Josef die Schleifung der Stadtbefestigung und die Anlage der Ringstraße als Prachtboulevard mit Kaiserforum, öffentlichen Gebäuden, Parks und Palais

Der Börsenkrach von 1873 markierte das Ende der Hochgründerzeit mit ihren Finanz- und Grundstücksspekulationen. 1858 lag die Bevölkerungszahl der damals fünftgrößten Stadt der Welt bei 471.000, um 1900, nach der Eingemeindung der Vororte bei 1,675.000. 1910 erreichte sie den Höchststand von 2,063.000, die Hälfte waren Zuwanderer, vor allem aus Böhmen. Viele werkten unter unvorstellbaren Bedingungen als Ziegelarbeiter in Favoriten. Viktor Adler nannte sie die "Sklaven vom Wienerberg." Sozial war die Stadt gespalten wie nie zuvor. Zwar agierte … Bürgermeister Karl Lueger kommunalpolitisch vorausschauend, indem er während seiner 13 Jahre lang währenden Regierungszeit die Infrastruktur großzügig ausbauen und kommunalisieren ließ …und ein modernes Verkehrssystem schuf, doch blieb der Wohnbau für die enorm wachsende Stadt … komplett dem privaten Markt überlassen. Immerhin: Jährlich wurden nun mehr als 10.000 Wohnungen errichtet. Das Wohnelend der Proletarier ist bekannt: Substandardwohnungen, Bettgeher, Tuberkulose.

Die Sozialdemokraten forderten 1900 in ihrem "Wiener Kommunalprogramm" den Bau von Arbeiterwohnhäusern. Wohnungsreformdebatten folgten, doch der große Durchbruch erfolgte erst nach dem Ersten Weltkrieg. Das Wohnbauprogramm des "Neuen Wien" (der Ausdruck "Rotes Wien" stammte ursprünglich von seinen Gegnern und setzte sich erst später durch) begann 1923 und fand weltweit Beachtung. Bis 1934 entstanden 65.000 "Gemeindewohnungen" in der Größe von 38 bis 57 m². Im Gegensatz zu herkömmlichen Zinshäusern legten die prominenten Architekten, oft Schüler Otto Wagners, Wert auf großzügige Grünflächen und Gemeinschaftseinrichtungen. Sie verwirklichten auch die baukünstlerische Gestaltung - Stichworte: Gesamtkunstwerk, Recht auf Schönheit, Veredelung des Arbeiters. Alternative Bauformen, wie Gartenstadt, Hochhaus oder die gebauten Modelle der Werkbundsiedlung setzten sich jedoch gegen die "Superblocks" nicht durch.

Auf die faschistische Wohnungspolitik folgten Nachkriegszeit und Wiederaufbau. Am Ende des Krieges waren durch Bombardements 80.000 Wohnungen zerstört worden, mehr als das Rote Wien gebaut hatte. Die aktuelle Epoche Vom sozialen Wohnbau zum sozialen Städtebau zeichnet sich durch Innovationen und Experimente aus. Fotografisch beginnt das Kapitel mit den Terrassentürmen von Alt-Erlaa (Harry Glück, 1976), die einen gewissen Umschwung signalisieren. Kurz nach dem Zweiten Weltkrieg waren jährlich bis zu 100.000 Wohnungen in großen Anlagen, wie dem Hugo-Breitner-Hof in Penzing, der Per-Albin-Hansson-Siedlung in Favoriten oder der Großfeldsiedlung in Floridsdorf entstanden. Mitte der 1970er- Jahre sah man den quantitativen Bedarf erfüllt und konnte an "sanfte Stadterneuerung", Gebietsbetreuung und Qualitätsverbesserung denken. Der Stadterneuerungsfonds (Wohnfonds Wien) schuf die Grundlage für das größte Wohnhaussanierungsprogramm der Welt, das mit dem "Wohnbau-Oskar" ausgezeichnet wurde. In den letzten Jahrzehnten setzt die Stadt Wien auf Bauträgerwettbewerbe, "Viersäulenmodell" (Architektur, Ökonomie, Ökologie, soziale Nachhaltigkeit) und Mieter-Mitbestimmung.

Zum wichtigsten Experimentierfeld der Stadtplanung und des Wohnbaus wurde die Seestadt Aspern, ab 2010 auf dem ehemaligen Flugfeld errichtet. … Die Seestadt sollte keineswegs eine Schlafstadt werden, sondern bei ihrer Fertigstellung - voraussichtlich 2030 - neben rund 20.000 Einwohnern ebenso viele Arbeitsplätze bieten. … Ein Wahrzeichen stellt das "HOHO" von Architekt Rüdiger Lainer dar, das weltweit höchste Holzgebäude mit 24 Stockwerken und einer gemischten Nutzung. … Außerdem soll hier auf rund 10.000 m² der interkonfessionelle, von 10 Religionsgemeinschaften getragene "Campus der Religionen" realisiert werden - ein Zeichen der in Wien gelebten Toleranz.

Wolfgang Förster, der in Architekturbüros und für die Stadt Wien tätig war und sich in seiner Beratungsfirma mit der Zukunft des Wohnbaus beschäftigt, bringt in seinem neuen Buch neben der Chronologie mehrere "Exkurse", etwa Eine Stadt, chaotisch und unfertig, Neues soziales Wohnen - Internationale Bauausstellung 2020 -2022, Integration durch Wohnbau. Er zeigt Fakten auf und stellt Fragen, wie Braucht Wien noch Wohnbau? - oder genügt das Mikrohaus au Rädern ? So schließt sich der Kreis vom Keltenhaus zum Wohnwagen auf der grünen Wiese (natürlich mit WLAN…)

hmw