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Helge Gerndt: Sagen – Fakt, Fiktion oder Fake? #

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Helge Gerndt: Sagen – Fakt, Fiktion oder Fake? Eine kurze Reise durch zweifelhafte Geschichten vom Mittelalter bis heute. Waxmann Verlag Münster - New York. 240 S., ill., € 27,90

Im Herbst 2020 wird Helge Gerndt, em. Professor für deutsche und vergleichende Volkskunde an der Universität München, mit dem "Europäischen Märchenpreis" für sein Lebenswerk ausgezeichnet. Der Mitherausgeber der "Enzyklopädie des Märchens" hat in Kiel und Wien studiert. Hier war der langjährige Museumsdirektor Leopold Schmidt sein Lehrer. Der Autor erinnert sich an den außergewöhnlichen Volkskundedozenten, der gerade fünfzig geworden war und das Manuskript seines Buches "Die Volkserzählung" abgeschlossen hatte. Schmidt lenkte das Interesse des Studenten auf die Sagen- und Märchenforschung, die diesen seit Jahrzehnten begleitet. Auch in seiner Habilitationsschrift behandelte Helge Gerndt ein österreichisches Thema, den Kärntner Vierbergelauf. Dabei hatte er ebenfalls Sagen und Legendenüberlieferungen zu berücksichtigen, denn Erzählungen, tradierte und neue, persönliche und gruppengebundene, sind geradezu ein Lebenselixier kultureller Phänomene.

Ein Wissenschaftler-Leben lang beschäftigt sich der geehrte Gelehrte mit der Erzählforschung. Vieles, worüber er im Lauf der Zeit gearbeitet hat, ist in sein jüngstes Buch eingeflossen, jedoch auch viel Neues. In den letzten Jahrzehnten hat "Story-telling" Hochkonjunktur. Bei Museumsführungen scheinen Geschichten mindestens so wichtig wie historische Daten. Firmen und Markenartikel pflegen ihren Mythos. Sie wollen eine unverwechselbare, authentische Geschichte haben, die potentielle Käufer faszinierend finden. Angesichts von Internet, Smartphone und sozialen Netzwerken drängt sich die im Titel aufgeworfene Frage "Fakt, Fiktion oder Fake?" immer mehr auf. Im Gegensatz zur traditionellen Sage, die "wahre" Geschichten mit skeptischem Unterton transportiert, sollen Fake News - erlogene Mitteilungen und hinterhältige Gerüchte im öffentlichen Raum desinformieren (und manipulieren). In Amerika ist "faktion" (Vermischung von Fakt und Fiction) beliebt und anerkannt. Der Sagenforschung eröffnen sich ganz neue Anwendungsgebiete.

Der deutsche Volkskundler - und Europäischer Märchenpreisträger 2010 - Rolf Wilhelm Brednich hat in den 1990er Jahren mit Urban Legends breite Aufmerksamkeit erweckt. Er erzielte damit den größten Verkaufserfolg einer volkskundlichen Geschichtensammlung seit den "Kinder- und Hausmärchen" der Brüder Grimm und hat die Verbreitung der 200 Jahre älteren Sagensammlung weit übertroffen." Seine erste Sammlung moderner Sagen ("Die Spinne in der Yucca-Palme") hat die Auflage von 680.000 Exemplaren überschritten, zu Übersetzungen und fünf Folgebänden geführt. Viele Leser teilten dem Forscher "sagenhafte Geschichten von heute" mit. Sie entstanden seit den 1960er Jahren, ebenso wie Boulevardblätter ("Weekly World News" USA 1979-2007, "De Nieuwe", Niederlande bzw. die deutsche Ausgabe "Neue Spezial"), die ausschließlich frei erfundene, unglaubliche Meldungen enthielten. Zu den bekanntesten zählen "Elvis lebt!" oder die fingierte Mondlandung. Die Grenzen zwischen den Geschichten in solchen Medien und Tageszeitungen sind, wie Helge Gerndt an vielen Beispielen belegt, fließend. Moderne Sagen decken den "Horrorbedarf" der Leserschaft, sie spiegeln aber auch unbewältigte Ängste in einer Welt der grenzenlosen Horizonte, der sich beschleunigenden Prozesse, der immer engeren Vernetzung und zunehmenden künstlichen Fremdbestimmtheit (Überwachung). Die Großstadtmythen sind gruselig, außergewöhnlich, makaber, scheinbar übernatürlich. Sie spielen in allen sozialen Schichten verbreiten sich schnell durch technische Hilfsmittel, und verschwinden ebenso schnell.

Die Sagenreise, auf die Helge Gerndt seine Leser mitnimmt, ist mindestens so spannend wie ihr Thema selbst. Nur wird vom Autor Fakt, Fiktion und Fake nicht vermischt - was für traditionelle Erzählungen fast typisch ist. Die Reise führt zu Herzog Heinrich dem Löwen (1129-1195) und dessen Pilgerfahrt nach Palästina, zum "Fliegenden Holländer", einer Sage des späten 18. Jahrhunderts, zum "Klabautermann", der um 1800 die Literaten faszinierte, auf den bayerischen Auerberg, wo man Mitte des 19. Jahrhunderts ein vorchristliches Heiligtum vermutete, und in die Gegenwart zu den Zeitungsgeschichten von der "fliegenden Kuh" und der Milzbrand-Attacke 2001. Forschungen zu den sechs exemplarischen Texten wechseln mit Analysen und Modellen zu grundlegenden Fragen der Sagenforschung und deren Geschichte ab.

Sagen sind eine bestimmte Textsorte, die unter spezifischen soziokulturellen Bedingungen um die Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert entdeckt, oder - wenn man so will - "erfunden" wurde. Motivationen der Aufklärung, Romantik und Literatur führten zum Interesse an den Überlieferungen. Am bekanntesten und umfangsreichsten sind die Sammlungen von Jakob und Wilhelm Grimm "Kinder- und Hausmärchen" (2 Bände 1812, 1815) und "Deutsche Sagen" (2 Bände 1816, 1818). Die Brüder beschäftigten sich aber nicht als erste mit den so genannten Volkssagen. In theoretischer Hinsicht markieren die "Deutschen Sagen" der Brüder Grimm keinen Aufbruch in Neuland, sondern eher einen Schlusspunkt. Das Werk hat zwar eine immense Stoffsammlung angeregt, jedoch das Weiterdenken gebremst oder in zu enge Bahnen geführt, schreibt Helge Gerndt. Für die Volkskunde als empirische Wissenschaft war es verhängnisvoll, dass die Brüder Grimm die bemerkenswerten aufklärerischen Forschungsansätze durch ihre romantische Betrachtungsweise nachhaltig verdrängt haben.

Heute erscheint "Sage" eher als wandelbares ideologisches Produkt denn als genuine Erzählgattung. … Alle publizierten Sagensammlungen sind künstliche Produkte, die insgesamt eine Tradition vortäuschen, welche in einer so kompakten Form nie vorhanden war. Als Konsequenzen für die Sagenforschung nennt Helge Gerndt die Betrachtung unter historischer Perspektive, unter empirischer, alltagssoziologischer oder kommunikationswissenschaftlicher Perspektive sowie das Fokussieren auf eine thematische und problembezogene Perspektive. Bei ihren Deutungsversuchen sollten Sagenforscher nach der Intention der gebildeten Textsammler und Herausgeber fragen, die eine fiktive Erzählwirklichkeit geschaffen haben.

Als Roter Faden zieht sich die Frage nach Wahrheitsanspruch, Wirklichkeit und Zweifel durch das überaus lesens- und bedenkenswerte Buch. Die Frage des Pontius Pilatus "Was ist Wahrheit?" findet schon in der Erzählung von der Verurteilung Jesu im Johannes-Evangelium (Joh 18,38) keine Antwort. Warum sollte es gerade im Reich der Sage anders sein? Was bleibt, ist die "Faszination des Geheimnisvollen". Ohne Erzählungen könnten wir als Menschen nicht leben. Sie sind wie das Blut, das durch unsere Adern fließt, und wie der Atem, der uns belebt. Mit jeder Geschichte, die wir hören, lesen oder auch selbst erfinden und erzählen, wägen wir und justieren wir. - bewusst oder unbewusst - unser Verhältnis zur Welt.

hmw