Stephan Moebius: Kultursoziologie #
Stephan Moebius: Kultursoziologie. Einsichten. Themen der Soziologie Band 1. Transkript Verlag Bielefeld. 280 S., € 23,-
"Multikultur", "Interkultur", "Unternehmenskultur", "Kulturbeutel", "kulturelle Kompetenz", "Organisationskultur", "Alltagskultur", "Konsumkultur", "Massenkultur", "Leitkultur", "Kulturkampf", "Politische Kultur", "Körperkultur", "Gefühlskultur", "Streitkultur", "Managementkultur" - dies sind nur einige Beispiele für einen heute allgegenwärtigen Begriff. So beginnt Stephan Moebius, Universitätsprofessor für Soziologische Theorie und Ideengeschichte an der Karl-Franzens-Universität Graz die aktualisierte und erweiterte Neuauflage seiner Einführung in die Kultursoziologie. Kultur ist nicht nur Literatur, Kunst, Musik oder Theater, sie ist umfassender, betrifft alle Bereiche des menschlichen Lebens und behandelt sowohl sinnhafte, ästhetische, materielle als auch technische Dimensionen menschlicher Beziehungen, stellt der mit dem Staatspreis für exzellente forschungsbezogene Lehre der Republik Österreich ausgezeichneteAutor einleitend fest.
Kultur ist fächerübergreifend einer der zentralen Schlüsselbegriffe gegenwärtiger Forschung. Dazu hat die Soziologie maßgeblich beigetragen. Schon um 1900 standen kulturtheoretische Fragen im Mittelpunkt der Soziologie. Seit dem Cultural Turn der 1960 und 1970er Jahre wurde Kultur zum allgemeinen Leitbegriff des Faches. Als Erklärung sozialer Prozesse gewinnt das Kulturelle immer mehr Einfluss. Die Soziologie versteht sich zunehmend als "Kulturwissenschaft". Aber auch in der Ethnologie, in den Geschichtswissenschaften und anderen sozialwissenschaftlichen Disziplinen wird Kultur als notwendige Bedingung sozialer Praxis wahrgenommen. Das bringt mit sich, dass das eigenständige Profil der Kultursoziologie zunehmend unscharf wird.
Die nun schon in dritter Auflage vorliegende Einführung gibt einen systematischen Überblick über Geschichte, Begriffe, Ansätze und Forschungsfelder der Kultursoziologie. Dabei wählt der Autor eine einheitliche Vorgangsweise: Da Theoriekonzeptionen immer im Hinblick auf andere Positionen, in spezifischen Generations- und Wissenschaftszusammenhängen und vor dem Hintergrund spezifischer gesellschaftlicher Prozesse formuliert werden, untergliedert er sie in "Theorienbündel". Zu Beginn der Hauptkapitel geht et auf den gesellschaftlichen und historischen Kontext ein, stellt die einzelnen AutorInnen vor und rundet dies mit einer knappen, kritischen Einschätzung ab. Klassiker wie Max Weber und Georg Simmel vertraten vor dem Ersten Weltkrieg einen "offenen", prozesshaften und sinnorientierten Kulturbegriff. Forscher der Zwischenkriegszeit griffen auf ethnologische Beobachtungen zurück.
Auf die Klassiker folgte der Cultural turn, gefolgt von der Analyse aktueller Theorien und Forschungen. Stichworte: Praxisorientierte Kulturtheorien, Kultursoziologische Theorien der Moderne, Poststrukturalistische Kulturtheorien, Kultursoziologie der Spätmoderne und schließlich die Studies. Diese Bezeichnung bevorzugt der Autor anstelle des häufig verwendeten Turn, einem neuen Forschungskonzept, das zum Erkenntnismittel und -medium wird. Dazu zählen die Governmentality Studies. Dabei geht es um die Frage, wie die Macht auf die Verwaltung der Risiken der Bevölkerung abzielt und damit die "Sicherheit" zum zentralen Thema wird. … Im Fokus der Queer Studies steht die Frage nach der Produktion und den Ausschlussmechanismen sexueller Identitäten. Im Zentrum der Postcolonial Studies … stehen Prozesse des "Othering", das heißt die spezifischen historischen Konstruktionen des kulturell Anderen sowie Differenzmarkierungen zu einem (konstitutiven) kulturellen Anderen, der gleichermaßen sowohl zum Objekt negativer Verwerfung wie positiv-attraktiver Identifikation avanciert. … Die Materialisierung der Kultur, auf die sich das Interesse der Science Studies … richtet, findet dabei ihren Ort jedoch nicht nur in Körper, Psyche, Sinnlichkeit oder Medientechnologien, sondern auch in Artefakten und Objekten, mit denen kulturelle Praktiken verwoben sind. … Ins Blickfeld der Space Studies gerät die kulturelle Produktion und Strukturierung von Räumlichkeit durch soziale Praktiken sowie umgekehrt die strukturierende Wirkung von Raum, durch die bestimmte Praktiken ermöglicht, aber auch eingeschränkt oder ausgeschlossen werden. … Die Grundthese der Visual Studies lautet, dass die Wahrnehmungsweisen durch kulturelle Artefakte, technische Apparate, Bilder, Medien und symbolische Ordnungen gestaltet und modelliert werden.
Die Einführung gibt einen kompakten und systematischen Überblick über die wichtigsten kultursoziologischen Theorien von den Anfängen bis zur Gegenwart. Man sieht, dass "Kultur" keine unabänderliche Bedeutung hat und oft wertend oder als "Kampfbegriff" verwendet wurde. Schließlich zitiert der Autor: Das Wort Kultur hat im Begriff der "Cultural Studies" weder eine ästhetische noch eine humanistische Ausrichtung, sondern vielmehr eine politische.