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Andrea Witzmann: wien. herzschlag#

Bild 'Witzmann'

Andrea Witzmann: wien. herzschlag - vienna.heartbeat. Böhlau Verlag Wien, Köln, Weimar. 216 S., ill., € 39,-

Dies ist ein Buch, das die Phantasie anregt und Fragen aufwirft. Das beginnt schon beim Titel "wien.herzschlag". Der einleitende Essay gibt einen Hinweis: Ich bin nur einen Herzschlag davon entfernt, aus der Welt zu fallen. … Ein Grinsen rollt über mich und mein Herz macht einen Sprung. Der fünfseitige Text in deutscher und englischer Sprache und rund 200 Bilder helfen den Assoziationen auf die Sprünge. Literarisch formulierte Gedankensplitter und großformatige Fotos kreisen um Wien, aber nicht nur.

Die analogen, nicht nachbearbeiteten Fotografien sind gekonnt arrangiert oder scheinbar zufällige Momentaufnahmen. Viele strahlen den morbiden Charme der jetzt so modernen "Lost places" aus, etwa die verlassenen Pavillons der Krieau. Aber die Wiener Künstlerin war dieser Mode schon lange voraus. Soll man mit Heimito von Doderer sagen: Viel ist hingesunken uns zur Trauer, und das Schöne hat die kleinste Dauer oder mit der Autorin fühlen, die eine hundertjährige Wohnung radikal modernisiert hat: Dunkel, groß und staubig waren die Räume bis wir sie in unseren Besitz nahmen. Die Schränke und Kästen, Karniesen und Vorhänge herausrissen, die Fliesen abschlugen und die Verschalungen entfernten. Gleißend durchflutete das Licht jetzt alle Winkel. ?

Etwas ins rechte Licht zu setzen, gehört zum Handwerkszeug der Fotografen. Andrea Witzmann, Absolventin der Wiener Universität für Bildende Künste, beherrscht es perfekt. In menschenleeren Cafés funkeln die Kristallluster. Sonnenstrahlen erhellen eine Passage. Eine einsame Straßenlampe bildet den Vordergrund zur kulissenhaft erscheinenden Raffinerie Schwechat. Wird sie in einigen Generationen ein unverstandenes Industriedenkmal darstellen, wie jetzt verlassene Gleisanlagen und Kohlenrutschen? In jenem Sommer vor dem endgültigen Abriss des Nordbahnhofs hinter dem Praterstern nahm ich fast jeden Tag einen Umweg durch die Brache, in die sehr bald Beton gegossen sein würde. Ein verwunschener, vergessener, sich selbst überlassener Garten mit verführerischen Wegen, verwachsenen Stufen und kühlen Tunneln. Einzig die rostigen Geleise wiesen bereits zusammenhanglos in eine Richtung.

Es sei "Das Warten auf das entsprechende Tageslicht, das den Bildern ihre besondere Atmosphäre und Glanz verleiht", hieß es vor mehr als einem Jahrzehnt zu einer Ausstellung der Künstlerin. Ein Flugzeug vor grau verhangenem Himmel scheint auf einem Stacheldraht zu balancieren. Nicht nur von der Technik, auch von der Landschaft gehen seltsame Stimmungen aus. Wasser, Donauinsel, Schiffe, Brücken, Häfen sind unkonventionell in Szene gesetzt. Der Donau entlang. Wind und fernes Rauschen der Tangente. Die Lastenschiffe knarzen an den sie fesselnden Pollern. Die Anstrengung der Taue mag die Sehnsucht nach dem Fluss nicht zu verbergen. Rost ist die Farbe ihrer Schattierung. Sind es die Gedanken der Autorin oder eines imaginären männlichen Erzählers?

Personen kommen auf Witzmanns Fotos kaum vor. Hörsäle wirken ebenso verwaist wie die Diskothek Scotch oder der Nachtclub Roxy. Menschen sind nur auf einer einzigen Aufnahme vorhanden. Sie zeigt den Fischerstrand an der zugefrorenen Alten Donau, wo Dutzende Eisläufer unterwegs sind. Öfter findet man Tiere: Möwen im Winter, Katzen am Tisch und im Bett, schwimmende blaue Fische in der Lobau, Fische zum Verzehr in Tokyo, Ziegen in Kaiserebersdorf, Schwäne im Wasserpark. Pflanzen beobachtet das Kameraauge in freier Natur zu jeder Jahreszeit: blühenden Sommerflieder, Magnolien, einen schneebedeckten Baum, der mit dem Riesenrad dahinter zu verschmelzen scheint. Blumen sind zu Stillleben arrangiert: Rosen, Tulpen, Mohn, Päonien und auch Zimmerpflanzen. Manche Landschaften regen zum Meditieren an, wie eine Allee im Lainzer Tiergarten, der Urwald am Schneidergrund, der Blick vom Leopoldsberg oder Weinrieden in Floridsdorf. Durch das Objektiv und im richtigen Ausschnitt betrachtet, haben sogar banale Straßenzüge ihren Reiz, beispielsweise die Franzensbrücke oder der Friedrich-Engels-Platz. Dort bildet eine Litfasssäule den Blickfang. Das Plakat bewirbt die Ausstellung "Stillleben. Eigensinn der Dinge", die Andrea Witzmann 2018/19 im Kunsthaus Wien gezeigt hat. Das entsprechende Foto "In der Fülle der Zeit" entstand 2011 in New York und ist ebenfalls im Buch vertreten.

Man kann den Fotoband stundenlang betrachten und Gedanken nachhängen. Fragen bleiben offen.

hmw