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Heinrich-Böll-Stiftung (Hg.): Stichworte zur Zeit #

Bild 'Böll-Stiftung'

Heinrich-Böll-Stiftung (Hg.): Stichworte zur Zeit. Ein Glossar. Transcript-Verlag Bielefeld. 352 S., € 19,50

Die Heinrich-Böll-Stiftung, eine grüne, politische Stiftung, versteht sich als reformpolitische Zukunftswerkstatt und internationales Netzwerk mit Partnerprojekten in 60 Ländern. Schon vor vier Jahrzehnten befragte sie Intellektuelle über "Stichworte zur geistigen Situation der Zeit". Jetzt wiederholte sie dieses Experiment und veröffentlichte Antworten im vorliegenden Buch "Stichworte zur Zeit". Es erschien in der Reihe "X-Texte zu Kultur und Gesellschaft". Damit bietet der Transcript-Verlag ein Forum für ein Denken 'für und wider die Zeit' .

Die Stichworte sind alphabetisch gereiht, von Authentizität bis Zombie. Den ersten Beitrag, über Die Schwierigkeit, man selbst zu sein verfasste Diedrich Diederichsen, Professor für Theorie, Praxis und Vermittlung von Gegenwartskunst an der Akademie der bildenden Künste in Wien. Der Autor verfolgt die Entwicklung der Authentizitäts-Ideologie seit der Rock'n'roll-Konstellation der 1950er Jahre. Er entlarvt "Authentizitätsterror" in der Kunst, Produktwerbung, Psychologie oder als Lebenmaxime Er entwickelt sechs Thesen, deren letzte lautet. Wo Kunst glaubt, unumwunden keine Kunst mehr sein zu können, produziert sie reine Strategie. Und die greift sich im Zweifelsfall immer die Macht.

Auch Facebook hat mit Macht zu tun, stellt die Soziologin Carolin Wiedemann (wenig überraschend) fest: Das Leitbild, das Facebook subtil propagiert, passt zu den gesellschaftlichen Machtverhältnissen und Rationalitäten des digitalen Kapitalismus. … Jede neue Bekanntschaft könnte ein neues Projekt, eine neue Verdienstquelle bedeuten. Im ersten Quartal 2020 zählte die Social-Networking-Plattform, die sich als erste global etabliert hat, 2,6 Milliarden aktive Nutzer. Wer sich anmelden will, ist genötigt, sein "Profil" zu erstellen: Facebook lässt keine Experimente zu: Hier wird suggeriert, es sei völlig normal, ein vorgegebenes Raster auszufüllen (und) … ein Profilbild hochzuladen: "Lächle, Du bist auf Facebook" Je mehr "Freunde" man hat, desto mehr Menschen können die eigenen Aktivitäten sehen und beurteilen. Freiwillig hinterlassen sie personenbezogene Daten ohne dass es eine Personalabteilung, ein Einwohnermeldeamt oder die Polizei fordern würde. Die Autorin zeigt zwar die Ambivalenz des neuen Mediums auf, glaubt aber schließlich: Facebook hat nicht unsere Freundschaften verändert, sondern neue Weisen geschaffen, in Verbindung zu sein.

Die Journalistin Julia Friedrichs schreibt in der "Zeit" über modernes Leben und soziale Fragen. Sie berichtet über ihre Freunde in der "Datschen-Kolonie", einer alternativen Kultur der Kleingärten, von denen es in Berlin 400 gibt. Das junge, urbane Publikum nähre in seinem Inneren das Klischee des Landlebens, zitiert die Autorin aus einer Studie. Sie hat sich zur Recherche in einen Zeitungskiosk begeben, der spezialisiert ist auf Magazine, die von der Sehnsucht junger Großstädter erzählen: gedruckt auf dickem Papier, matt in der Farbgebung, erdig im Look. Zeitschriften dieses Genres sind kein Nischenprodukt mehr, sie erfreuen sich europaweit mit den selben Themen großer Nachfrage. Das sei aber nur die Spitze des Eisbergs, meint Julia Friedrichs: Unter der Oberfläche verberge sich nichts weniger als "ein neuer Zeitgeist". Eine weitere Erkundungstour führt sie in eine rund 100 km von Berlin entfernte, ehemals ostdeutsche Kleinstadt. Landidylle fand sie dort keine, "sondern den echten Kampf der Provinz ums Überleben."

Die kritische Zugangsweise zu den selbst gewählten Stichworten haben alle Autorinnen des Bandes gemeinsam. Es geht ihnen um die Frage Wie wollen wir in Zukunft leben? Ob die zutreffenden Antworten gefunden werden, muss sich erst zeigen.

hmw