Wir freuen uns über jede Rückmeldung. Ihre Botschaft geht vollkommen anonym nur an das Administrator Team. Danke fürs Mitmachen, das zur Verbesserung des Systems oder der Inhalte beitragen kann. ACHTUNG: Wir können an Sie nur eine Antwort senden, wenn Sie ihre Mail Adresse mitschicken, die wir sonst nicht kennen!
unbekannter Gast

Christoph Kühberger: Mit Geschichte spielen #

Bild 'Kühberger'

Christoph Kühberger: Mit Geschichte spielen. Zur materiellen Kultur von Spielzeug und Spielen als Darstellung der Vergangenheit. Transcript Verlag Bielefeld. 452 S., ill. € 40,-

Rund 20 HistorikerInnen, PädagogInnen und Museumsfachleute trafen sich Ende 2019 zur internationalen Tagung Mit Geschichte spielen. Veranstalter waren das Salzburg Museum und die Universität Salzburg. 2022 sollen die Ergebnisse in eine Ausstellung einfließen, das Begleitbuch bzw. der Tagungsband ist bereits jetzt erschienen. Dieser betritt in seiner Dichte wissenschaftliches Neuland. Die Beschäftigung mit verschiedensten Spielen und Spielsachen als Teil der Geschichtskultur ist bis auf wenige Ausnahmen nach wie vor eine Randerscheinung in der kulturwissenschaftlichen, kulturgeschichtlichen und geschichtsdidaktischen Forschung, schreibt der Initiator und Buchherausgeber Christoph Kühberger, Universitätsprofessor für Geschichts- und Politikdidaktik an der Universität Salzburg. Den in jeder Hinsicht vielseitigen Band gliedert er in vier große Bereiche.

Die Basis bilden Theoretische Momente. hier verweist der Bielefelder Historiker Jörg van Norden auf das Spiel als anthropologische Konstante. Seit Anfang der Menschheit sei gespielt worden. Diese Tatsache beweise die "Identität der menschlichen Natur" unabhängig von Zeit und Raum. Theoretiker des Spiels berufen sich - bis heute aktuell - auf den niederländischen Kulturhistoriker Johan Huizinga (1872-1945), der im Spiel den Ursprung jeder Kultur sah. Das Spiel sei freiwillig und auf die Freizeit beschränkt, in der nicht gearbeitet werden muss. Es sei frei von materiellem Zwang, das heißt, es müsse nicht auf ein verwertbares Produkt hinauslaufen, wie es bei Arbeit oder Kunst der Fall ist. Um Archetypisches geht es auch im Beitrag des Salzburger Geschichtsdidaktikers Heinrich Ammerer. Er stellt fest, dass kindliche Vorstellungswelten seit jeher von merkwürdigen Wesen wie Hexen, Feen, Zauberern, Gespenstern oder feuerspeienden Drachen bevölkert sind. Diese erleben gerade wieder einen erstaunlichen Boom, etwa wenn sie zunächst mittelalterlichen Wikingern das Leben schwer machen und diesen dann im Kampf gegen angreifende Römer zur Seite stehen. Dass nicht nur Kinder von Phantasiewesen fasziniert sind, sondern auch Erwachsene, zeigt eine Befragung zu deren Lieblingskostümen. Etwa die Hälfte nannte Märchenfiguren wie Prinzessin, Hexe oder Vampir, ein Viertel Helden, wie Pirat oder Cowboy, als bevorzugte Verkleidung im Fasching.

Um Prinzessinnen, Piraten, IndianerInnen geht es im zweiten Teil. Robert Hummer von der Pädagogischen Hochschule Salzburg zeigt, dass das freie Spiel mit geschichtskulturellen Produkten von bekannten Spielzeugherstellern wie LEGO ® oder Playmobil ® , die als "wahrnehmbare Gegenwart der Vergangenheit " in die Lebenswelt hineinragen und auf die historischen Vorstellungen der Kinder rückwirken können. Eine Schlüsselrolle kommt den Disney-Märchenprinzessinnen zu, die Schönheitsvorstellungen und Körperideale von Mädchen beeinflussen. Mit Geschlechtervorstellungen und Geschichtsbewusstsein beschäftigt sich der Kieler Historiker Sebastian Barsch. Er verfolgt das "Gender-Marketing" - Maßnahmen zur Ökonomisierung geschlechterstereotyper Zuschreibungen. Der Salzburger Historiker Wolfgang Buchberger referiert das männliche Gegenstück zur pastellfarbenen Prinzessin, die historischen Piraten. Deren Darstellungen fand er in Puppen für Kleinkinder ebenso wie in Gesellschaftsspielen, Playmobil ® und LEGO ®-Figuren. Das stereotype Piratenbild bezieht sich auf karibische Freibeuter des 17. und 18. Jahrhunderts. Später prägte der Roman "Die Schatzinsel" das Bild der Seeräuber. Bei den Buben geht es meist um Wettbewerb, Kampf und Sieg, Gut und Böse. Das klassische Beispiel dafür sind Indianer-Spiele, mit Plastikfiguren oder als im Freien, mit entsprechender Verkleidung. Wenig überraschend hat das Outfit wenig mit der historischen Wahrheit zu tun. Diese wurde schon früh verfälscht. So gab es bei der Wiener Weltausstellung 1873 als "Indianerzelt" gestaltete Erlebnisgastronomie und 1890 die pseudo-authentische Show von Buffalo Bill, die von Kindern nachgespielt wurde. Als Thronfolger Franz Ferdinand 1893 Nordwestamerika besuchte, war er überrascht, wie wenig seine Vorstellungen von der einheimischen Bevölkerung mit der Realität übereinstimmten. Christoph Kühberger zitiert aus dem Tagebuch des Erzherzogs: Wie staunte ich aber, als ich beim Betreten des Blockhauses statt der erwarteten Waffen, Häute und Skalps erschlagener Feinde eine Nähmaschine sowie eine Kaffeemühle … fand.

Wie weit entfernte Wohngebiete beflügeln auch weit entfernte Zeiten die Phantasie. Vor allem sind es die Ritter und ihre Burgen, deren sich die Spielzeughersteller angenommen haben. Der dritte Teil ist Burgen, Ritter, Bauklötze übertitelt. Oliver Auge, Mediävist in Kiel, widmet sich den Spielzeugritterburgen. Christoph Bramann, Salzburg, und Stephan F. Ebert, Darmstadt, untersuchen Playmobil ®-Ritter als Ausdruck von Geschichtskultur. Die Playmobil ®-Ritterburg zählt auch im 21. Jahrhundert zu den Bestsellern der Spielzeugserie. Die zugehörigen Figuren sind seit 1974 im Programm. Den Autoren standen für ihre Analysen 82 Produkte zur Verfügung. Dabei stellten sie anfangs mehr mittelalterliche Bezüge fest als bei den jüngeren "Ritter-Sets" mit offensichtlich anachronistischer Darstellung. Auch Fantasy-Aspekte nahmen seit den 1990er-Jahren merklich zu.

Das Abschlusskapitel Am Brett und online beginnt mit Geschichte im Brettspiel. Hier gibt die Nürnberger Historikerin Charlotte Bühl-Gramer Theoretische Anmerkungen zu einem Phänomen populärer Geschichtskultur. Sie beginnt ihren Artikel mit der Feststellung: Das Spielen von Gesellschaftsspielen belegte im Jahr 2020 Rang zehn der beliebtesten Freizeitaktivitäten, rund 33 Mio. Deutsche spielen zumindest ab und zu Gesellschaftsspiele. Zahlreiche Brettspiele beziehen sich auf historische Ereignisse und Personen. In einer Datenbank, die 115.000 Spiele erfasst, fällt fast ein Fünftel in diese Kategorie. Dabei changiert die Spielwelt zwischen Fakten und Fiktionen. Am Ende steht ein Fragezeichen: Geschichte (virtuell) spielen - und lernen? Diesen Beitrag verfasste der Hamburger Erziehungswissenschaftler Andreas Körber. Mag sich das jeweilige individuelle Spielen dadurch auszeichnen, dass es keinen unmittelbaren Zweck besitzt, erfüllt es doch eine gesellschaftlich relevante Funktion … und greift dazu auf ebenso gesellschaftliche Handlungsmuster und … Wertvorstellungen zurück.

hmw