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Tom Koch - Stephan Doleschal: Mid-Century Vienna#

Bild 'Koch'

Tom Koch - Stephan Doleschal: Mid-Century Vienna. Auf den Spuren des Aufbruchs. Mit Beiträgen von Al Bird Sputnik, Wojciech Czaja, Peter Payer und Susanne Reppé. Deutsch/Englisch. Falter Verlag Wien. 240 S., ill., € 29,90

Bei näherer Betrachtung ist ganz Wien eine Art Mid-Century-Freilichtmuseum, beginnt der Grafiker Tom Koch seine Exkursion zu den - reichlich vorhandenen - Relikten der Aufbaujahre. Fast 70 Jahre sind vergangen, seit die - von Stephan Doleschal meisterhaft fotografierten - Gemeindebauten, Verkehrsbauwerke, Infrastruktureinrichtungen, Kindergärten, Kirchen, Bäder, Kinos etc. entstanden. "Ordentlich und schön" sollte die nach dem Zweiten Weltkrieg wieder erstandene Stadt sein. Das Mäzenatentum der Gemeinde Wien mit dem Programm "Kunst am Bau" trug ebenso dazu bei wie die für alle erschwinglichen SW-Möbel.

1953 wurde die 100.000. Gemeindewohnung errichtet - und dringend gebraucht. 50.000 Wohnungssuchende standen auf der Warteliste. Seither erhielt Wien 220.000 Sozialwohnungen. Schutt wurde zu Bausteinen verarbeitet, Plattenbauten mit Grünflächen und Gemeinschaftseinrichtungen angelegt. Das erste Projekt war die Per-Albin-Hansson-Siedlung in Favoriten mit 900 Einheiten. 1952 stellte die Mindestgröße von 55 m² inklusive Badezimmer schon einen Fortschritt dar. Neue Stadtteile und Hochhäuser charakterisierten die Ideen der Stadtplaner. Die angemessene Einrichtung sollte durch SW-Möbel ermöglicht werden. Beim Projekt "Soziale Wohnkultur" kooperierten Gemeinde Wien, Gewerkschaft, Handelskammer und Arbeiterkammer. Ratenzahlungen und modernes Design - u. a. von Roland Rainer, Franz Schuster und Oskar Payer - machten die Attraktivität der Aktion aus. 1960 beteiligten sich 119 Wiener Möbelgeschäfte.

In der Mitte des 20. Jahrhunderts erhielt die Stadt eine neue Infrastruktur. Man baute Straßen und Brücken für die aufkommende Automobilisierung, und u. a. ein Wasserreservoir, ein Umspannwerk in Ottakring und die Rundfunk-Sendeanlage auf dem Bisamberg. Herausragend ist die Wiener Stadthalle, über die Tom Koch schreibt, dass ihre Rolle als Symbol des neu erstarkten Selbstbewusstseins Wiens als Kulturmetropole und "Sehnsuchtsort" der Wiener Bevölkerung nicht hoch genug eingeschätzt werden kann. Von Roland Rainer geplant und 1958 eröffnet, gastierten u. a. Eisrevue, Zirkusshow, Reit- und Springturniere in der lange Jahre größten Veranstaltungshalle Österreichs. Als weitere prestigeträchtige Bauten der "Jonas-Jahre" nennt der Autor die Ringstraßen-Passagen (jene beim Schottentor heißt inoffiziell "Jonasreindl") und das Wien-Museum. Ebenfalls in seine Regierungszeit als Bürgermeister (1951-1965) fielen die Renovierung des Theaters an der Wien (1962) und die WIG 64. Diese internationale Gartenschau mit ihrem Wahrzeichen, dem Donauturm, zählte in einem halben Jahr weit mehr als zwei Millionen Besucher. Nach den Mühen des Wiederaufbaus wollten die WienerInnen ihre Freizeit "vergnüglich" verbringen. Gelegenheit boten neue Sportarten wie Minigolf oder Bowling, Lokale wie Espressi und Eissalons. Italienisches Flair war gefragt. Wer sich den (Camping-)Urlaub nicht leisten konnte, fand in den erneuerten Freibädern wie Gänsehäufel, städtisches Strandbad oder Bundesbad an der Alten Donau leistbare Alternativen. Sogar im Prater, dem "Vergnügungspark der unterschiedlichen Geschwindigkeiten" finden sich die Spuren des Aufbruches, etwa bei der Kinderautobahn oder der globusartigen Spielplastik nächst dem Planetarium. Auch die nostalgische Hochschaubahn entstand in den 1950er Jahren. Sie ist eine der letzten drei erhaltenen "Scenic Railways", wie man die im 19. Jahrhundert in Amerika erfundenen Holzachterbahnen mit künstlicher Landschaft nannte. Die beiden Züge mit je zwei Waggons bieten Platz für jeweils 14 Personen und werden von sogenannten Bremsern begleitet, die für die zusätzliche Sicherheit der jährlich rund 100.000 Passagiere sorgen. Wer Nervenkitzel sucht, ist hier fehl am Platz.

Im Text- und Bildband Mid-Century Vienna geht es nicht nur um die Architektur, sondern auch um die Menschen und ihr Lebensgefühl von damals. Für die Jüngsten baute man fast 50 städtische Kindertagesheime samt Grünflächen und mit eigens entworfenem Spielzeug. Die Kindergärten waren Ausdrucks eines optimistischen Blicks in die Zukunft. Für körperbehinderte Kinder entstand die Hans-Radl-Sonderschule, die international als richtungweisende Lehranstalt galt. Mit der Kultur der Jugendlichen und jungen Künstler beschäftigen sich weitere Beiträge. Da sieht man Jazzclubs, Bohemien-Lokale, Tanzschulen und begegnet bekannten Namen, darunter Friedensreich Hundertwasser, Gerhard Bronner und Peter Alexander (damals noch Neumayer), aber auch den "Bambis" und den " 3 Spitzbuben". Ausgehen konnte man seinerzeit in Cafés, Tanzcafés und Kinos. Unter den Lichtspieltheatern war jenes im Gartenbau-Hochhaus am Parkring das "Kino der Superlative". Als erstes in Wien erhielt es 1960 eine 70-mm-Leinwand, ein Jahr später eine Cinerama-Leinwand. Geplant wurde es von Architekt Robert Kotas, der für den Neu- bzw. Umbau von 38 Wiener Kinos verantwortlich zeichnete.

Ein wichtiges Zeitdokument stellt die vom Wiener Stadtbauamt herausgegebene Buchreihe "Der Aufbau" dar, in der unter dem Chefredakteur Rudolf J. Böck Fragen des Wiederaufbaus und der Stadtplanung auf hohem Niveau diskutiert und Objekte vorgestellt wurden. Einige Ausgaben waren der "Kunst am Bau" gewidmet, einem Programm, bei dem die Stadt Wien als Mäzen auftrat. Ein Prozent der Bausumme war für die künstlerische Gestaltung vorgesehen. Im Jahrzehnt bis 1959 wurden mehr als 1000 Aufträge an heimische KünstlerInnen vergeben, darunter später so prominente wie Rudolf Hausner und Fritz Wotruba. Über mehrere Stockwerke reichende Mosaike zeigten Motive aus der Natur, Lokalgeschichte, abstrakte Kompositionen oder Alltagsszenen. Brunnen und Plastiken belebten das soziale Grün innerhalb der Gemeindebauten.

In den Jahren des Zweiten Vatikanischen Konzils, als in der katholischen Kirche Aufbruch angesagt war, entstanden experimentelle Sakralbauten. Beispiele dafür sind u. a. die Pfarrkirche Unterheiligenstadt mit ihrem zeltförmigen Innenraum und symbolisch-architektonischen Anspielungen oder die Neukagraner Maria-Goretti-Kirche mit der markanten Hängedachkonstruktion. Gerade diese zeigt aber, dass nicht alles damals Moderne funktionell war. Nach einem Sturmschaden war das Dach undicht und wurde erst drei Jahrzehnte später erfolgreich repariert.

Der äußerst gelungenen Band Mid Century Vienna bietet eine faszinierende Reise in eine Ära, die gar nicht so lange zurückliegt und sich doch wesentlich von heute unterscheidet. Bei manchen Betrachtern werden die gezeigten Beispiele Erinnerungen wecken, andere werden sie als altmodisch gering schätzen. Wahrscheinlich ist es den gebauten Zeitzeugnissen aus dem Jugendstil oder den Gemeindebauten des Roten Wien nicht anders ergangen. Nun aber ist es an der Zeit, der Architektur aus der Mitte des vorigen Jahrhunderts Aufmerksamkeit zu widmen.

hmw