Wolfgang Kos: Der Semmering #
Wolfgang Kos: Der Semmering. Eine exzentrische Landschaft . Residenz Verlag Salzburg. 384 S., ill., € 34,-Wolfgang Kos gilt als "Semmering-Neuentdecker". 1984 erschien seine grundlegende kulturhistorische Studie "Über den Semmering". Darin übertrug er die Bezeichnung "Zauberberg" von Thomas Manns 1924 erschienenem Bildungsroman auf die "exzentrische Landschaft" an der niederösterreichisch-steirischen Grenze. Nach fast vier Jahrzehnten erinnert sich der frühere ORF-Redakteur und Direktor des Wien Museums: Als junger Radiojournalist und Historiker habe ich mich in den 1980er Jahren erstmals auf das Phänomen Semmering eingelassen. Etappen einer transdisziplinär angelegten Reise waren Publikationen und die Ausstellung "Die Eroberung der Landschaft". Sie fand 1992 im Schloss Gloggnitz statt. Seit 1998 zählt die Semmeringbahn zum Weltkulturerbe. 150 Jahre davor war Baubeginn für die Südbahnstrecke von Gloggnitz nach Mürzzuschlag. 1854 wurde das technische Meisterwerk eröffnet. Es überwindet 459 Höhenmeter, führt über 100 gewölbte Brücken, 16 Viadukte und durch 15 Tunnels.
Über die erste Hochgebirgseisenbahn der Welt, ihre Vorgeschichte, Geschichte und Zukunft schreibt Kos: Das absolut Neue war, dass hier von Carl Ghega und seinem Team erstmals die Methode des Anschmiegens der Trasse an die Geländeformen für einen Bahnbau angewendet wurde. Die "monumentale Baustelle" galt als Sehenswürdigkeit - für die Bürger der Monarchie ebenso wie für ausländische Gäste. Nach der Eröffnung galt die Bahnfahrt als Schauspiel. Der Waggon erschien als fahrbarer Zuschauerraum, die Semmeringbahn wurde zum "Medienstar". Zuvor hatte die Überquerung des Passes für die meisten Reisenden eine unangenehme Herausforderung bedeutet. Doch Maler, Naturforscher und Wanderer wussten die romantische Schönheit der Landschaft zu schätzen. Franz Grillparzer nannte den Semmering einen "mächtigen Greis", und schon Anfang des 19. Jahrhunderts gab es kommerzielle Ansichtenserien des Gebietes.
Um die Jahrhundertmitte - besonders nach der Bahneröffnung - etablierte sich der "Balkon von Wien" zur Nobelsommerfrische. In Reichenau erkannte die Waissnix-Dynastie den Tourismus als Wirtschaftsfaktor, der sich ideal in ihren "ländlichen Mischkonzern" einfügen ließ. Ihr Thalhof wurde zum Leitbetrieb des Tales. Ein eigenes Kapitel ist der Thalhofwirtin Olga Waissnix und ihren prominenten Gästen - dem Literaten Peter Altenberg und dem Schriftsteller Arthur Schnitzler - gewidmet. Vorteilhaft wirkten sich die Kontakte der Familie zu Mitgliedern des Kaiserhauses aus, die hier Rast machten. Für den kleinen Kronprinz Rudolf bauten Waissnix eine Miniatur-Jagdhütte. Für die Aristokratie schufen sie eine elegante Kuranstalt mit Kaltwasser-Anwendungen und "Terrainkur" Das gehobene Bürgertum folgte dem adeligen Vorbild und errichtete Villen in Payerbach und Reichenau. Die Jahrzehnte von 1870 bis 1890 nennt der Autor "Ringstraßenzeit im Grünen". Hier wie dort dominierten Bankiers, Kaufleute und Industrielle. Zu einem Prestigeduell zwischen Kaiserhaus und Geldadel kam es, als wenige Jahre nach Errichtung der Villa Wartholz (1870-1872 erbaut nach Plänen von Heinrich von Ferstel für Erzherzog Karl Ludwig) der exzentrische Baron Nathaniel Rothschild, …reichster Mann Europas, auf dem Parkett von Reichenau auftauchte und im Ortsteil Hinterleiten ein Schloss bauen ließ. Dieses sollte die Villa Wartholz in mehrfacher Hinsicht übertrumpfen, doch noch vor der Fertigstellung zog sich der launenhafte Bauherr aus Reichenau zurück. … In Reichenau munkelte man jedenfalls, dass er weggeekelt worden sei. Das Kapitel über die Rax, das meistbegangene Gebirge der Ostalpen erzählt vom Alpinismus und dem prominenten Kletterer Psychiater Viktor Frankl.
Das sympathisch layoutierte Werk behandelt vielfältige Aspekte und Zusammenhänge. Zahlreiche aussagekräftige Illustrationen bilden die ideale Ergänzung zu den profunden Texten. Der zweite Teil widmet sich dem Semmering in vier chronologischen Abschnitten. Die Zeit von 1880 bis 1918 war gekennzeichnet von der "Landnahme" durch die Südbahn-Gesellschaft, die inmitten einer entlegenen Gebirgsgegend die künstlich angelegte Hotel- und Villenkolonie "Semmering" etablierte. Es schien ungewöhnlich, dass die Bahngesellschaft 1882 als Bauherr eines Luxushotels im Gebirge auftrat. Aber die Kombination von "Wildnis", "Eleganz" und "Luxus" bewährte sich. Die Aktie Semmering stieg schnell. Wichtig für die Weiterentwicklung war die Eröffnung des Hotels Panhans im Jahr 1888. Bis 1904 entstanden 26 Semmeringvillen, davon 14 nach Plänen von Franz Neumann d. J.. In Wien war er Mitarbeiter des Rathaus-Architekten Friedrich Schmidt und baute u. a. die Arkadenhäuser, die Kuffner-Sternwarte und Objekte für die Ottakringer Brauerei. Peter Rosegger kritisierte den Wandel. Man wisse nicht, "ist es ein Land mit Stadthäusern oder eine Stadt von Landhäusern?". Um 1900 charakterisierten "Palasthotels und Gesellschaftsspiele" den Semmering. Dazu kam der "salonfähig" gewordene Wintersport. Schriftsteller und Journalisten, Theaterleute und Verleger nutzten die inspirierende Atmosphäre zu Arbeitsaufenthalten und kollegialen Treffen. Die Nähe zu Wien erwies sich dabei als unschätzbarer Vorteil.
In den 1920er Jahren brachen soziale Gegensätze auf. Die einst homogene Gesellschaft, die die Grandhotels als ihr wohlverdientes und geschütztes Territorium betrachtet hatte, stand unter kritischer Beobachtung … Hotels wie das Panhans, das Südbahnhotel oder das Kurhaus Semmering mit ihrer vornehmlich jüdischen Klientel standen zunehmend in Distanz zum Mainstream einer bodenständiger werdenden Gesellschaft. Ein Riss zwischen urban und alpin zog sich durch Politik, Kultur und Lebensstil von Klein-Österreich. Dennoch erlebte der Semmering in den 1930er Jahren eine "anachronistische silberne Ära." Mit 30.000 Nächtigungen stand er an der Spitze der österreichschen Tourismusstatistik. Panhans und Südbahnhotel erhielten damals moderne Hallenbäder. Bei diesen konnte eine Wand geöffnet werden, sodass man beim Schwimmen Rax und Schneeberg vor sich sah. Für Aufsehen sorgten auch die Automobil-Bergrennen von Schottwien zur Passhöhe und das 1934 im Festsaal des Panhans eingerichtete "Alpen-Casino". Wenige Jahre später wurde das Panhans zum "Gauhotel" und diente als Erholungsstätte für das Parteiestablishement. Die meisten Hotels wurden in Offizierslazarette umgewandelt , enteignete Villen für Kinderlandverschickungen verwendet.
In den Jahren um 1980 hatte auf dem Semmering die Abwärtsspirale ihren Tiefpunkt erreicht. Eine Region der Reichen war arm geworden. Damals entdeckte Wolfgang Kos den "verletzten Ort" für sich, mit dem "zum Gespenst gewordenen Südbahnhotel", der Passhöhe als "Nicht-Ort von besonderer Trostlosigkeit" und dem "geschundenen Hotel Panhans". Bei dessen Versteigerung war 1978 Albert Kallinger der einzige Bieter. Er wollte einen Teil als Hotel weiterführen und das halbe Gebäude in Eigentumswohnungen umwandeln. Trotzdem war 2011 der Konkurs unvermeidlich. Die Gemeindeführung lieferte sich einem undurchschaubaren ukrainischen Konsortium aus. Die Großinvestoren kauften auch mehrere Betriebe und Liftanlagen. Hoffnungen und Versprechungen erfüllten sich nicht. 2015 berichtete der "Kurier" von einem "Millionen-Krimi". Dass der undurchsichtige Einstieg der ukrainischen Investoren heute auch als politischer Skandal mit möglicher Korruptionsbegleitung bewertet wird, ist eine Folge des Ibiza-Videos von 2019 … Mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit diente der Panhans-Deal auch als Kulisse für ganz andere Operationsziele … schreibt Wolfgang Kos, der einen Ausblick in die Zukunft wagt. Nicht nur er sieht das Jahrzehnt bis 2030 als neue Gründerzeit. Die These, dass es am Semmering so viel Aufbruchsstimmung gibt, wie schon lange nicht, wird von vielen geteilt. Globale Trends wie Klimawandel, steigendes Ansehen des Verkehrsmittels Eisenbahn, historischer Tourismus als Inspiration der Naherholung würden dafür sprechen. Der Autor präsentiert konstruktive Ideen, warnt jedoch vor der "Nostalgiefalle".