Alois Ortner - Robert Perfler (Hg.): Lebenswelt Villgraten#
Alois Ortner - Robert Perfler (Hg.): Lebenswelt Villgraten in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts in Bildern von Ernst Schrom und Texten von Maria Lang-Reitstätter. 286 S., ill., ISBN 978-3-200-07252-7, € 34,-
Die gediegen gesammelten und eindringlich geschriebenen Studien hätten in anderen Zeiten wohl eine ganze Monographie zur Volkskunde von Villgraten ergeben können, schrieb der langjährige Museumsdirektor Leopold Schmidt im Nachruf auf Maria Lang-Reitstätter (1898-1977). Das Österreichische Museum für Volkskunde verdankt der ethnologisch interessierten Wiener Pädagogin und Schriftstellerin rund 150 Exponate - von der Wiege bis zum Fußabstreifer- und publizierte ihre Studien zur vorindustriellen Osttiroler Alltagskultur in der Vereinszeitschrift. Nun scheinen die "anderen Zeiten" gekommen. Ein prächtiges Buch, illustriert mit Bildern des Wiener Künstlerhausmitglieds Ernst Schrom (1902-1969) versammelt ihre Texte aus dem Jahren 1933 bis 1972.
Maria Lang-Reitstätter und ihr Ehemann Karl Lang verbrachten in den dreißiger Jahren die Ferien am Hof "Renner" in Villgraten. Der Maler Ernst Schrom und seine Frau Anni logierten dort zwischen 1936 und 1943, sowie in den 50er und 60er Jahren. Der Zufall lieferte den Grund dafür: Da ein Schlechtwettereinbruch die Rückkehr des Ehepaares in sein Urlaubsquartier in Sillian vereitelte, fragte es bei der Gemeinde nach einem anderen. Der Sekretär empfahl das Anwesen der Familie Ortner. Er erinnerte sich, dass sich in den Jahren zuvor eine Schriftstellerin dort sehr wohl gefühlt hätte, also müsste es wohl auch ein Maler dort "aushalten", dachte dieser. Er sollte Recht behalten, die Verbindung zwischen den Familien Schrom aus Wien und Ortner in Außervillgraten besteht inzwischen über vier Generationen.
In der Stube, die einst als provisorisches Fremdenzimmer diente, entstand der Plan zur vorliegenden Publikation. Alois Ortner, der als Kind den Künstler auf seinen Wanderungen begleitete, wurde gemeinsam mit dem Neurologen und Bergbauern Robert Perfler zum Herausgeber des Bild-Textbandes "Lebenswelt Villgraten" . In sechsjähriger Arbeit haben sie eine perfekte zeithistorische Synthese von Ethnologie, Literatur und Malerei geschaffen. Obwohl auf non-profit Basis erstellt, nur von Sponsoren unterstützt und ohne Verlag ediert, ist das Buch professionell geschrieben und gestaltet. Eine interessante Ergänzung lieferte der Biologe und wissenschaftliche Illustrator Alois Wilfling, der die detailgetreuen botanischen Studien Schroms in einer Expertise mit Vergleichsfotos vorstellt.
Ernst Schrom und Maria Lang-Reitstätter dokumentierten das soziale Universum einer weitgehend verschwundenen vorindustriellen Lebenswelt. Vor einem knappen Jahrhundert bildete der Hof für die bäuerliche Familie Lebensinhalt und Horizont. Seh- und Gehweite begrenzten den Lebensraum. Zum Zeitpunkt ihrer Entstehung hatten die Werke Schroms und Lang-Reitstätters kaum eine über das Ortskundliche hinausgehende Aussagekraft. Heute gelten sie als wichtige zeithistorische Dokumente. Trotzdem, betont Robert Perfler, dürfe man nicht vergessen, dass die Autorin ein Kind ihrer Zeit, der damals modernen Reformpädagogik, war. In ihren Texten schwinge eine gewisse idealisierende, erzieherische Botschaft und Naivität mit. Ernst Schrom "wollte das, was wir Heimat nennen, abbilden und festhalten", schreibt Stefan Weis, Museumsleiter von Schloss Bruck. Schrom malte "seine Realität", er bewahrte das Einfache und Natürliche mit Farbe und Papier.
Ernst Schrom besuchte die Akademie der Bildenden Künste bei den Professoren Rudolf Jettmar und Rudolf Larisch. Nach seiner Tätigkeit als Mittelschullehrer und dem Kriegsdienst war er Mitglied der Gesellschaft Bildender Künstler (Künstlerhaus) und Ausstellungsleiter im Landesverband der Niederösterreichischen Kunstvereine. Auf einer Dienstreise verunglückte er tödlich. Schrom war ein Meister künstlerischer Techniken wie Holzschnitt Zeichnung, Aquarell, Tempera und Ölmalerei, fotografierte, entwarf Briefmarken, Ex Libris, Gobelins und Fassadengestaltungen. Seine Werke befinden sich u. a. in der Graphischen Sammlung Albertina und im Museum Schloss Bruck, Lienz. Dieses besitzt 246 Arbeiten, die im Buch abgebildet sind. Sie dokumentieren Menschen, Häuser, Pflanzen, Landschaften und Arbeitsgeräte.
Maria Lang-Reitstätter war Volks- und Hauptschullehrerin in Wien. 1919 heiratete sie Karl Lang, Pädagoge, Ethnologe, Künstler und Schriftsteller. Sein Buch "Österreichische Heimatmuseen" (1929) ist noch heute von Bedeutung. Im vorliegenden Band finden sich etliche seiner Bilder aus Osttirol. Geprägt von der Wiener Schulreformbewegung, wirkten beide am Pädagogischen Institut. Das Ehepaar war beseelt von der Vorstellung, dass durch Völker- und Kulturkunde Bildungswerte geschaffen würden, die für das Leben jedes Menschen von Bedeutung seien. Daher forderten sie Ethnologie als Unterrichtsfach. 1948-1952 entwickelte Maria Lang-Reitstätter in St. Jakob im Rosental (Kärnten) den "Rosentalplan". Als Direktorin wollte sie Pflichtschüler zu Arbeit und Lernen motivieren. "Erziehung zum Menschentum" und "Gemütsbildung" waren wichtige Prinzipien. Doch blieb dem ambitionierten Projekt der Erfolg versagt. Maria und Karl Lang wurden versetzt und arbeiteten bis zu ihrer Pension in Graz. Außerdem verfasste die Pädagogin zahlreiche Jugendbücher, sammelte Lieder, Gedichte und Schwänke. Ihre volkskundlichen Studien in Villgraten behandelten "Wiese und Feld", "Vieh und Futter", "Wald und Holz", "Bauernkost", "Hochzeit", "Kinderspiel und Kinderleben" sowie die Weihnachtszeit. Sie hat die Bergbauern beobachtet, mit ihnen gesprochen und in den Berichten viel Mundartliches verarbeitet. Robert Perfler bescheinigt ihr, der damaligen Realität sehr nahe gekommen zu sein.
Eine kritische biographische Aufarbeitung, ethnologische und philologische Anmerkungen und Betrachtungen der Herausgeber runden das Werk "Lebenswelt Villgraten" ab. Mit naiver Nostalgie hat es nichts zu tun, aber es kann zum Nachdenken anregen: Die aktuellen globalen Entwicklungen, soziokulturellen und (land-)wirtschaftlichen Verwerfungen sowie nicht zuletzt rezente Pandemien, aber auch schon zuvor bestehende gesellschaftliche Strömungen machen die beschriebene bäuerliche Subsistenzwirtschaft, regionale wirtschaftliche Kreisläufe, nachhaltige sowie kleinräumige soziale Strukturen des Zusammenhalts und der Nachbarschaftshilfe aktueller denn je. Sie sind heute für viele Menschen – gerade auch in der aktuellen Situation – nachahmenswert, stellen die Herausgeber fest.