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Florian Rötzer: Sein und Wohnen#

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Florian Rötzer: Sein und Wohnen. Philosophische Streifzüge zur Geschichte und Bedeutung des Wohnens. Westend Verlag Frankfurt/M. ; 288 S., € 22,-

Man kann die Heimat auswechseln oder keine haben, aber man muss immer, gleichgültig wo, wohnen, stellte der Philosoph Vilém Flusser (1920-1991) fest. Der Altösterreicher sprach aus bitterer Erfahrung. In Prag geboren, musste er emigrieren, lebte in London, Brasilien, Italien und Frankreich. Wohnen und Heimat waren für ihn Zeichen der Gebundenheit der Menschen, die von Natur aus eigentlich Nomaden seien. Neue Medien würden ihnen Zugang zu einer neuen Freiheit schaffen, meinte der Philosoph.

Florian Rötzer referiert Flussers Gedankengänge in seinem umfassenden Versuch einer Philosophie des Wohnens. Der deutsche Philosoph und Publizist beginnt seine Streifzüge zur Geschichte und Bedeutung des Wohnens anthropologisch - von der biologischen Zelle bis zur neuen Un-Heim-lichkeit des modernen Panopticon, vernetzter Smarl Homes, Smart Cities und Smart Nations. Wohnen, das Bauen von Wohnungen und das (Sich-)Einrichten in diese, ist eine anthropologische Konstante. … Spannt man den Bogen weit, so verläuft das Leben des Menschen anthropologisch betrachtet zwischen dem Aufwachsen in der ersten Höhle, dem Uterus, über die erste Vertreibung aus dem paradiesischen Garten und dem Sturz in die Welt, das Bauen und Einrichten von Wohnungen … bis zur Rückkehr in die letzte Wohnung, den Sarg.

Die Philosophen der griechischen Antike waren Städter. Sokrates (469-399 v. Chr.) "wohnte" im öffentlichen Raum Athens: Es ist eine Flucht aus der Wohnung und dem Gewohnten in das Abenteuer des Denkens, welches in das Neue mitreißt, auf Wanderschaft ins Unbekannte geht und das Gewohnte zurücklässt. Diogenes von Sinope (412-323 v. Chr.) erhob das Verweigern des eigenen Heims zur philosophischen Geste. Er soll keinen festen Wohnsitz gehabt, sondern in öffentlichen Säulengängen oder in einem Vorratsgefäß (Pithos, "Fass") geschlafen haben. Seine vitalen Bedürfnisse habe er in aller Öffentlichkeit befriedigt, heißt es über den Kyniker, über den kaum gesicherte Daten erhalten sind.

Hingegen flohen christliche Einsiedler vor der Stadt und ihren Versuchungen. Seit dem 3. Jahrhundert zogen sich Mönche in die Wüsten Ägyptens und Syriens zurück um ein von Askese, Gebet und Arbeit bestimmtes Leben zu führen. Der Kirchenvater Aurelius Augustinus (354-430) lehrte, ein Christ sei permanent auf Pilgerschaft. Im Bewusstsein seines begrenzten Aufenthaltes finde er überall ein Zuhause. Wie es im Psalm 119, 19 heißt: "Ich bin nur Gast auf Erden." Die iroschottischen Missionare des 6. bis 8. und 11. Jahrhunderts, wie Patrick oder Columban, gingen um Christi willen freiwillig in die Fremde („peregrinatio pro Christo“), gründeten Einsiedeleien und betrieben die Christianisierung Europas. Körperpflege schien beim nomadischen Lebensstil von untergeordneter Bedeutung. Florian Rötzer spricht sogar vom "Gestank der Heiligkeit": Mit dem Aufkommen des fundamentalistischen, zunächst eher asketischen Christentums und dem Zusammenbruch des römischen Reiches mit seiner bislang zelebrierten Bade- und Reinheitskultur wurde (diese …) für unwichtig oder gar dekadent befunden. Man wird die Jahrhunderte lang in Europa mangelnde Hygiene nicht nur den Christen anlasten dürfen. Sie war allgemein nicht sehr ausgeprägt, doch gab es Ausnahmen.

Von Leonardo da Vinci (1452-1519) ist überliefert, dass er - im Gegensatz zu Michelangelo (1475-1564) - sehr auf Sauberkeit achtete. Zur Zeit der Pest in Mailand erkannte er einen Zusammenhang zwischen Hygienestandards und Seuchenausbreitung. Er schlug breite Straßen und Kanäle, Trinkwasserversorgung, Müllabfuhr und Parks vor. Allerdings nur in den höher gelegenen Stadtteilen für die Oberschicht. Dienstboten etc. sollten auf einer unteren Ebene der Stadt leben. Noch schlimmer muss es in den Dörfern gewesen sein, wo Menschen und Tiere eng beieinander hausten. Im 18. Jahrhundert setzte sich durch, was Florian Rötzer "die große Reinigung" nennt, die mit der Aufklärung Hand in Hand ging.

Ein typischer Vertreter war Johann Peter Frank (1745-1821). Der Begründer der Hygiene als selbstständige Wissenschaft und des Lehrfachs Gerichtsmedizin an der Universität Wien war 1795 bis 1804 Direktor des Allgemeinen Krankenhauses. Er reformierte die Anstalt grundlegend und verabreichte hier 1802 die erste öffentliche Pockenimpfung. 1779 begann die Veröffentlichung seines Hauptwerkes „System einer vollständigen medicinischen Polizey“. Mit dem Werk, an dem er vier Jahrzehnte gearbeitet hatte, wollte er das gesamte öffentliche und private Leben unter gesundheitlichen Gesichtspunkten regeln. Im dritten Band (1783) beschäftigte sich der Medizinermit den Städten und Wohnungen, die "bis in den letzten Winkel hinein" nach den Wissenschaften gebaut werden sollten. Das 19. Jahrhundert war mit seiner hygienischen Wende eine Umbruchszeit. … Im Funktionalismus … fand diese Entwicklung ihren Abschluss: Klare, glatte und helle Gebäude und Flächen im Serienbau, Eisen, Beton, Glas, dazu Elektrizität zum Betreiben von Licht und Maschinen. … Die "Ornamente", die Adolf Loos mit Kriminalität in Verbindung brachte, sollten eliminiert werden.. "Bald werden die straßen der städte wie weiße mauern glänzen. Wie Zion, die heilige stadt, die hauptstadt des himmels. Dann ist die erfüllung da", konstatierte Loos.

Florian Rötzer betrachtet "Wohnen" aus vielen Aspekten. Philosophie, Kulturgeschichte, Medizin und Architektur sind nur einige davon. Neben Wohnungslosigkeit, Hygiene, Nomadismus, Raumfahrt, Heimat, Migration, Seuchen und Kriegen interessiert ihn das "Phänomen des Entwohnens". So vergleicht er die Alterungsgeschwindigkeit von Gebäuden: Außenwände aus Natursteinen halten bis 250 Jahre, Ziegel 150 Jahre, Stahl und Hartholz 100 Jahre, moderner Beton 80 Jahre. Bei Einfamilienhäusern rechnet man mit einer Lebensdauer von 60 bis100, bei größeren Wohngebäuden mit 60 bis 85 Jahren.

Schließlich erhebt sich die Frage, wie die Wohnungen der Zukunft aussehen werden. Dabei stößt der kollektive Erfahrungsschatz weitgehend an seine Grenzen. "Tiny Houses", stationär oder mobil, "gelten heutzutage als chic." Damit verbunden ist ein umwelt- und klimafreundlicher, konsumkritischer Lebensstil. Weitere Möglichkeiten wären Co-Housing oder andere Genossenschaftsprojekte, die den sozialen Zusammenhang fördern. Auf der anderen Seite droht "die neue Un-Heim-lichkeit" der Smart Cities. Mit dem Einzug in Smart Homes ist endgültig Schluss mit der Illusion von Privatheit", stellt der Autor fest. Noch ist das Gruselhaus-Szenario der Science Fiction vorbehalten, wie im High-Tech-Thriller "Game Over" von Philip Kerr aus den 1990er Jahren.. Es geht darin um ein Haus, das sich in der Hand eines Supercomputers befindet. Die technischen Mittel des intelligenten Hauses verwandeln sich in Mordinstrumente. Florian Rötzer wagt einen Blick in die digitale Zukunft, die das Wohnen radikal verändert: Man ist schlicht nicht mehr allein zuhause, sondern permanent überwacht von Kameras und anderen Sensoren in einem digitalen Kokon,… in dem sich Herrschafts- und Knechtschafts-, Master- und Serververhältnisse in den Schaltkreisen auflösen.

hmw