Sonja Stummerer, Martin Hablesreiter: Wie wir essen#
Sonja Stummerer, Martin Hablesreiter: Wie wir essen. Tischkultur - Geschichte, Design und Klima. 221 S., ill., Böhlau Verlag Wien. € 32,-
Die Art, wie wir essen, ist biologisch nicht vorgegeben, sondern kulturell gestaltet, schreiben Sonja Stummerer und Martin Hablesreiter. Sie studierten an der Wiener Universität für Angewandte Kunst, in Barcelona und London Architektur und Design und gelten als Mitbegründer der Food-Design-Szene. Stummer arbeitete in Tokyo als Projektarchitektin beim Pritzker-Preisträger Arata Isozakis. Gemeinsam mit Martin Hablesreiter gründete sie 2003 das transdisziplinäre Atelier honey & bunny in Wien. Seither setzen sie sich recherchierend, schreibend, illustrierend und künstlerisch mit alltäglichen Objekten und Handlungen auseinander. Da das Ehepaar auch international als Performance-Künstler auftrat, darf man ein unkonventionelles Buch erwarten - und wird trotzdem überrascht. Die Fotos von Ulrike Köb und Daisuke Akita zeigen die Food-Designer in opulent inszenierten Ess-Situationen. Der Textteil bietet solide kulturhistorische Informationen.
Das erste Kapitel ist den "Essinstrumenten" gewidmet. Der Löffel als ältestes Tafelgerät war lange Zeit ein kostbarer persönlicher Besitz: Wer das Glück hatte, zur Geburt einen silbernen Löffel geschenkt zu bekommen, verwendete diesen ein Leben lang und gab ihn am Sterbebett sprichwörtlich wieder ab. Im Lauf der Jahrhunderte wandelten sich nicht nur Materialien - Holz, Horn, Metall … - sondern auch die Formen. Lange Stiele kamen vermutlich in der Renaissancezeit auf, als ausladende Halskrausen modern waren. "Bartlöffel" oder "Fett-Mager-Saucenlöffel" verschwanden wieder.
Das Messer, traditionell eine Waffe, diente ursprünglich zum Vorschneiden. Nur dem Fürsten oder König stand es zu, Fleisch für seine Untergebenen aufzuschneiden. Auch heute noch wird die Benutzung des Messers durch verschiedene Vorschriften stark eingeschränkt … Demnach darf Brot stets nur gebrochen und niemals geschnitten werden, ebenso wie Salat … Knödel oder Kartoffel.
Um die Gabel entfachte sich ein moralischer Diskurs. Die Kirche verdammte sie als "Teufelsspieß" und verbot sie in den Klöstern. Am Wiener Kaiserhof wurde das Essen mit Gabeln im Jahr 1651 unter Kaiser Ferdinand III. eingeführt. Die Verwendung der Gabel veränderte auch den Gebrauch der anderen Speisewerkzeuge. Ihre Form ist bis heute Veränderungen unterworfen. Der "Göffel" ist ein an der Vorderseite mit verkürzten Gabelzinken versehener Löffel. Als Plastik-Einwegbesteck dient er dem Konsum von halbflüssigem Fastfood. Der "Spork" besitzt zudem scharfe Seitenkanten zum Schneiden.
Den entscheidenden Entwicklungsschritt - weg vom persönlichen Accessoire hin zur Haushaltsausstattung - erfuhr das Besteck im Barock. … Das "liegende" Besteck brachte eine starke Veränderung der Tischkultur mit sich. … Dafür wurden im Zuge einer generellen Ästhetisierung des Essens im 18. Jahrhundert sämtliche Tischutensilien vereinheitlicht und gestalterisch aufeinander abgestimmt. Die Vielfalt an Essgeräten nahm zu, und der Teller behauptete sich als Speiseablage. Auf dem Land hatten zuvor alle aus einer Schüssel gelöffelt, dann dienten Holzbretter oder Brotscheiben den Einzelnen als Unterlage ihrer Speisen. Für die Oberschicht wurden im 16. Jahrhundert tiefe Teller erfunden.
Auch woraus man trinkt, ist eine Frage der Mode. Als Trinkgefäße entstanden aus Bechern und Kelchen im Lauf der Zeit Tassen und Gläser. Als im 18. Jahrhundert, von Meißen und Wien ausgehend, Porzellangeschirr zur Luxusware wurde, fertigten die Manufakturen für die Heißgetränke Kaffee und Kakao Henkeltassen an. Diese waren aufwändig bemalt. Um den künstlerischen Dekor nicht zu verdecken, spreizte man beim Trinken den kleinen Finger weg. Diese längst obsolete Geste ist bis heute bekannt.
Möbel, die wir während des Essens benutzen, legen die Körperhaltung fest, die wir bei der Nahrungsaufnahme einnehmen. Während man in manchen Teilen der Welt möglichst bequem auf Teppichen, Pölstern oder Sofas Platz nimmt, zwingt uns die europäische Kombination aus Tisch und Stuhl … in eine eher ungemütliche Position. Diese befinden sich meist in speziellen Räumen, vom Rittersaal und Speisezimmer bis zur modernen Küche-Wohnzimmer-Kombination.
Die ersten städtischen Gasthäuser gab es im 16. Jahrhundert in England. 1765 entstand in Paris das erste Restaurant. Dort bekam man gesundes Essen und nahrhafte Suppen. Diese sollten die körperlichen Kräfte "restaurieren", daher die Bezeichnung. Das erste Selbstbedienungsrestaurant existierte schon 1885 In New York. 1937 eröffnete Patrick McDonald in Kalifornien einen Hamburgerstand. Seine Söhne perfektionierten und standardisierten die Fastfood-Lokale. Damit war nun auch das Essen unterwegs leichter möglich. Im Gegensatz zur schnellen Nahrungsaufnahme im Freien stehen das Picknick und die Treffen mit Kollegen und Familien zur Kirschblütenzeit in Japan. Beide haben ihre ganz spezielle Speisekultur.
Beim Essen in Gesellschaft spielt auch die Kleidung eine Rolle. Was bei Tisch tragbar ist, hängt von Zeit, Kultur und sozialem Umfeld ab. Während manche Modestücke und Accessoires - etwa Sonnenbrillen oder Schirmkappen - beim Essen als unpassend eingestuft werden, sind andere besonders gern gesehen. Dazu zählen Krawatte, Smoking und Frack, Cocktail- und Abendkleid.
Das letzte Kapitel nennt sich Tischkultur und Klima. Stichworte sind hier einerseits Fastfood, Einwegprodukte und Foodwaste, andererseits vegetarische Ernährung und Nachhaltigkeit. Im bäuerlichen Milieu bezeichnete "Nachhalt" die Bevorratung für den Winter. Das Künstlerduo ist überzeugt, dass Nachhaltigkeit beim Essen kulturell eingebettet sein muss. Es geht also nicht nur darum, unser Essen, sondern auch unsere Esskultur nachhaltig zu machen. Denn die Regeln und Rituale rund um unser Essen sind nicht nur bedingt von der Natur, oder von der Wirtschaft vorgegeben, sondern gestaltbar.