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Heidi Brunnbauer, Erich Stöger (Hg.) Das Wiener Cottage#

Bild 'Cottage neu'

Heidi Brunnbauer, Erich Stöger (Hg.) Das Wiener Cottage. Der Traum vom gesunden Wohnen. Verlag Wiener Cottage Verein. 376 S., ill., € 48,-

Das Wiener Cottage-Viertel in Währing und Döbling feiert 2022 sein 150-Jahr-Jubläum. Das gemeinnützige Projekt für gesundes und leistbares Wohnen im Grünen war bahnbrechend in Europa. Heute zählen die ca. 620 Grundstücke auf etwas mehr als einem Quadratkilometer zu den begehrtesten Wohngegenden Wiens. Das Jubiläumsbuch ist mehr als eine Festschrift: in mehrfacher Hinsicht vielseitig - nicht nur wegen des Umfangs von fast 400 großformatigen Seiten. Neun ExpertInnen haben ein fundiertes Lese- und Nachschlagwerk geschaffen, das so unterschiedliche Themenbereiche abdeckt, wie Geschichte, rechtliche Grundlagen, Architektur, soziales Gefüge, Gärten oder Denkmalschutz. Herausgegeben wurde das neue Standardwerk von der Autorin bisher dreier Cottage-Bücher, Heidi Brunnbauer, und dem internationalen Bankfachmann Erich Stöger.

Als Vizepräsident und Kassier des Wiener Cottage Vereins (WCV), hat er den 150-seitigen Chronikteil verfasst. Darin stellt er zunächst die bahnbrechenden Ideen der Gründerväter vor: Heinrich Ferstel (1828-1883) … reiste 1851 u. a. nach London zur Weltausstellung und lernte die Wohnform der englischen Cottages kennen: Einfamilienhäuser mit Garten. … Nachdem Ferstel 1856 überraschend den Wettbewerb zum Bau der Wiener Votivkirche gewonnen hatte, stieg er zum … renommierten Architekten auf, beschäftigte sich aber auch mit städtebaulichen Überlegungen. Der Ringstraßenarchitekt erkannte die Missstände infolge der drastischen Verknappung des Wohnraums bedingt durch den starken Zuzug aufgrund der Sogwirkung der Gründerzeit, wie Wohnungsnot, Spekulationsbauten, überfüllte Mietkasernen und letztlich katastrophale Wohnverhältnisse für große Teile der Bevölkerung. Ferstel und der Kunsthistoriker Rudolf Eitelberger veröffentlichten weitblickende städtebauliche Alternativen über "Das bürgerliche Wohnhaus und das Wiener Zinshaus". Sie plädierten für kleine Bauten und entwickelten konkrete Beispiele für ihre Gartenstadt-Idee.
Aufgrund dieser Visionen gründeten der Jurist Eduard Kral und der Architekt Carl Borkowski mit Bankenvertretern und Staatsbeamten das Proponentenkomitée für den WCV. Vereinsziel war die Linderung der herrschenden Wohnungsnot durch Schaffung von günstigem, gesundem Wohnraum durch Familienhäuser mit Garten. Realisiert wurde das Projekt an den Abhängen zur Türkenschanze in schöner freier Lage und mit großartiger Fernsicht und Rundblick. Die Planung des Rasterviertels erfolgte mit Alleen und Grünstreifen. Die ganze Anlage sollte ein einziger Garten sein, der von kreuzenden Straßen in große Beete geteilt wird.. Für die Häuser waren jeweils ein Viertel, für die Gärten drei Viertel der Grundstücke vorgesehen. Bauwerber hatten die Wahl zwischen 13 individuell variierbaren "Normalplänen". Zwei Baufirmen führten die Aufträge aus, das ermöglichte eine optimale Preisgestaltung. Die erste Phase (1873) umfasste acht Allee-Straßen und 51 Häuser mit Gärten. Vom Spatenstich bis zur Fertigstellung vergingen nur sieben Monate. 1887 bestand das Cottage bereits aus 150 Villen, bis zum Ersten Weltkrieg waren es rund 350.

Von besonderer Bedeutung war und ist die Cottage-Servitut aus 1872. Sie legt die Bebauungsbestimmungen für ein Familienhaus im "Cottage-Style" mit rund 300 m² Wohnfläche plus Garten und Vorgarten fest. Dabei herrscht das Prinzip der gegenseitigen Rücksichtnahme. Die Mitglieder verzichten freiwillig auf einzelne Rechte. Alle wollten das Gleiche und zogen am gleichen Strang. Es bestand der klare Wunsch, als Bewohner des Cottage-Viertels mit dem zu errichtenden Familienhaus Teil eines nachhaltigen Gartenstadtviertels und dessen Gemeinde zu werden, mit gemeinsamen und gleichen Wohnzielen. Das ging so lange gut, bis sich in der Nachkriegszeit Baugesellschaften der Gründe bemächtigten und dem Prinzip widersprechend, ohne Rücksicht auf Umgebung und Nachbarn ihren Profit maximieren wollten.

Mit den juristischen Grundlagen der Cottage-Servitut beschäftigt sich der emeritierte Dekan der Rechtswissenschaftlichen Fakultät der Universität Wien, Walter H Rechberger. Eingehend erläutert er die Geschichte der Servitut, bringt internationale Vergleichen und Beispiele bis zur jüngsten Judikatur.

Roland Tusch lehrt und forscht am Institut für Landschaftsarchitektur der Universität für Bodenkultur in Wien. Er referiert über die Architektur im Cottage. Mit zahlreichen Plänen illustriert, zeigt sein Beitrag den Wandel von der Zweckmäßigkeit als Bauprinzip zu großbürgerlichen Idealen. Die ersten - einfachen - Häuser folgten dem englischen Konzept, nach dem Räume für eine Familie in verschiedenen Geschoßen untergebracht waren. Das widersprach den Wiener Gewohnheiten und fand wenig Anklang. Man beschloss die Möglichkeit, im ersten Stock eine vermietbare Wohnung einzuplanen und nutzte das steile Dach zur Unterbringung von Kabinetten und Zimmern. Das Äußere sollte einen malerischen Eindruck bieten, der mit Türmchen und Erkern sowie Mischung von Sichtziegel-,Hackstein- und Riegelwandbau erzielt wurde. Zweckmäßig und zugleich künstlerisch, prägt die Vielfalt in der Einheit das Viertel in einzigartiger Weise. Der "Traum vom gesunden Wohnen" blieb hier keine Phantasie, sondern wurde zu einem Vorbild.

Die Ökonomin Heidi Brunnbauer ist als Autorin einer Trilogie bekannt, die diese Häuser und ihrer Bewohner vorstellt. Für das Jubiläumsbuch schreibt sie über deren soziales Gefüge. Anfangs war die Mitgliedschaft im Cottageverein Beamten und Offizieren vorbehalten. Zehn Jahre später durften auch Doktoren, Kaufleute sowie ihre Frauen und Witwen beitreten. Das Cottage entwickelte sich zur Nobeladresse. Brunnbauer beschreibt alteingesessene Familien, herausragende Persönlichkeiten und das jüdische Cottage. Das gesellschaftliche Leben spielte sich im "Casino" in der Ferstel-Villa ab. Beliebt war der Eislaufverein mit Clubhaus, Tennisplätzen und Kegelbahn. Auch Eliteschulen bestanden in dem Viertel. 1918 maturierten die Nobelpreisträger Richard Kuhn (Chemie) und Wolfgang Pauli (Physik) am Döblinger Gymnasium in der nach ihm benannten Straße. An akademischen Lehranstalten entstanden die k. k. Universitätssternwarte , die Hochschule für Bodenkultur und die Hochschule für Welthandel.

Die Kunsthistorikerin Astrid Göttche beschäftigt sich mit den Cottage-Gärten im Spannungsfeld zwischen Historismus und Moderne. Anfangs folgte man dem pittoresken Ideal mit geschlungenen Kieswegen, Glashäusern, Spingbrunnen und Alpengärten. Der renommierte schwedische Gartenarchitekt Carl Gustav Swensson plante Villengärten und - gemeinsam mit dem Stadtgärtner Gustav Sennholz - den Türkenschanzpark nach diesen Kriterien. Die privaten Auftraggeber wandten sich in den 1920er Jahren von den romantischen Anlagen ab und folgten dem Trend zu einer streng architektonischen Gestaltung aus formal geführten Wegen und Zierbeeten. Architekt Karl Örley, der u. a. das Beethovendenkmal in Heiligenstadt und das Strauß-Lanner-Denkmal im Stadtpark schuf, verwirklichte den neuen Stil beispielgebend bei seinem eigenen Haus.

In der für die gute Luft bekannte Türkenschanzgegend trugen die Gesamtheit der Gärten und tausende Alleebäume zum Klimaschutz bei (ohne ihn so zu nennen). Darüber hinaus engagierten sich die WCV-Mitglieder für einen öffentlichen Park. Vom Gartenhistoriker Christian Hlavac erfährt man Interessantes über den ersten, aus Privatinitiative entstandenen "Volkspark". Initiator war wieder Heinrich Ferstel, der aber wenige Wochen vor der behördlichen Bewilligung des Park-Vereins 1883 starb. Protektor wurde, wie beim gesamten Cottage-Viertel, der Bruder des Kaisers, der "Bürger-Erzherzog" Carl Ludwig. Bei der Eröffnung 1888 kündigte der Monarch die Eingemeindung der Vororte an. Vier Jahre später übernahm die Gemeinde Wien den Türkenschanzpark und erweiterte ihn 1908-1910.

Die abschließenden drei Beiträge sind dem Denkmalschutz gewidmet. Bruno Maldoner liefert eine kritische Analyse zum Thema historische Schutzzonen in Wien. Er würdigt die Aktivitäten des WCV: Dies bremste die damalige Bauspekulation und war ein eindrucksvolles Modell für partizipative Prozesse. Leider hat sich diese Vorgangsweise nicht in den Vorschriften zur Durchführung der baubehördlichen Verfahren in dieser Schutzzone niedergeschlagen, worunter die gesamtheitliche Behandlung unübersehbar leidet. Der Autor legt detailliert dar, warum die Wiener Altstadterhaltung als "weitgehend verfehlt" zu bewerten ist. Er schreibt: Von verantwortungsbewussten Eigentümern erhaltene Bauten, im Original und in einem gepflegten Umfeld, gereichen allen zum Vorteil und bieten eine besondere Lebensqualität.

Caroline Jäger-Klein, Präsidentin von ICOMOS Austria, dem Beratergremium der UNESCO, gibt Empfehlungen für das Wiener Cottage im Sinne der Welterbekonvention. Internationale Richtlinien sind vorhanden und auch in Wien könnte bei koordinierter Anstrengung vieles erreicht werden. Jedoch herrscht aufgrund der Kompetenztrennung zwischen Bund, Ländern und Gemeinden eine "desaströse Situation". In Wien fehlt außerdem eine mögliche, demokratische Diskussions- und Kontrollebene.

Der Kunsthistoriker Dieter Klein stellt Entschwundene Mosaikstücke des Cottage-Viertels vor: Von "gegenseitiger Rücksichtnahme", wie sie in der Gründerzeit des Cottage sogar in Kaufverträgen und Grundbüchern verankert wurde, war nach 1945 immer weniger die Rede. Als jüngster Verlust sei der ehemalige Türkenwirt an der Peter-Jordan-Straße genannt, der mit seinem bunten Dach und den Jugendstilfassaden geradezu ein Wahrzeichen dieses Stadtviertels gewesen ist.

Das Jubiläum "150 Jahre Wiener Cottage" ist gleichermaßen ein Anlass zur Freude, wie ein Anstoß, die Ideen der Gründerväter weiter zu führen. Sie wünschten sich freie Aussicht, Licht, frische Luft, ohne üble Gerüche, ohne Lärm und Feuersgefahr. Dies wünscht man sich auch heute bei der Wohnqualität. Das einzige homogen geplante und auf privater Basis umgesetzte Gartenstadt-Viertel von Wien steht vor großen Herausforderungen. Die Lektüre des neuen Standardwerks, das umfassend informiert, ist allen Interessierten sehr zu empfehlen.

hmw