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Judith Herrin: Ravenna#

Bild 'Herrin'

Judith Herrin: Ravenna. Hauptstadt des Imperiums. Schmelztiegel der Kulturen. Übersetzt von Cornelius Hartz. wbg Theiss Darmstadt. 604 S. ill., € 39,-

Seit eineinhalb Jahrtausenden bewundern Millionen BesucherInnen aus aller Welt die Mosaiken in den Kirchen von Ravenna. 1959 war Judith Herrin als Teenager eine von ihnen. In der Stadt beeindruckte mich besonders das Mausoleum der Galla Placidia mit seinem Mosaik des Sternenhimmels, der über Tauben und Hirschen thront, die aus Brunnen trinken und den faszinierenden geometrischen Mustern auf den Bögen, die die Kuppel stützen. 40 Jahre später kam sie wieder, war wieder hingerissen und kaufte mehrere Reiseführer. Doch alle ließen die Frage offen, warum es zu dieser erstaunlichen Konzentration frühchristlicher Kunst in Ravenna gekommen war und wie diese Kunst überlebt hat. Da die Autorin inzwischen zur renommierten Historikerin, Archäologin und Byzantinistin geworden war, beschloss sie, diese Lücken zu füllen. Judith Herrin schrieb u. a. Bücher über die Entstehung des Christentums in der mediterranen Welt, die Kaiserinnen und die Rolle der Frauen in Byzanz.

Die Stärke von Byzanz beruhte auf einer dreifachen Kombination: Das Rechtswesen und militärische Geschick der Römer verbanden sich mit griechischer Bildung und Kultur und mit christlichen Moralvorstellungen. In neunjähriger intensiver Forschung samt Exkursionen kam die Londoner Universitätsprofessorin zu dem Schluss, den üblichen Terminus "Spätantike" durch den Begriff "Frühchristentum" zu ersetzen. Die klassische Antike war "heidnisch", aber spätestens seit der Gründung Konstantinopels im Jahr 330 war das römische Reich dazu bestimmt, christlich zu werden. Und das gilt nicht nur für das Territorium innerhalb der Reichsgrenzen. Die sogenannten Barbaren, die jenseits dieser Grenzen lebten, waren nicht weniger von der Aussicht fasziniert, im Jenseits ewig zu leben und traten zum Christentum über … Nach dem Aufstieg des Islams und dem Streit über die Rolle von Ikonen, die er provozierte, wurde dieser Prozess sogar noch wichtiger.

Schon in der Einführung zeigt sich die Autorin als vielfach ausgezeichnete Erzählerin und glänzende Stilistin. Sie erzählt nämlich Geschichte und nicht, wie üblich, Geschichten. Judith Herrin versteht es meisterhaft, komplizierte Zusammenhänge verständlich zu machen. Sie bekam den Heineken-Preis für Geschichte, der als "holländischer Nobelpreis" bezeichnet wird. Ihr Buch über Ravenna erhielt den britischen Duff-Cooper-Literaturpreis für historische Werke, und "Times" verlieh ihm die Auszeichnung "Book of the year". Für die gelungene Übersetzung aus dem Englischen zeichnet der deutsche Sachbuchautor Cornelius Hartz verantwortlich. 60 Farbtafeln würdigen die berühmten Mosaiken.

Anno 402 verlegte Kaiser Honorius den Regierungssitz in die kleine, gut zu verteidigende Stadt Ravenna. Bis 751 war der Ort an der Po-Mündung zunächst die Hauptstadt des Weströmischen Reiches, dann des riesigen Königreiches des Gotenkönigs Theoderich und schließlich das Zentrum der byzantinischen Macht in Italien. Eines der ersten Kapitel ist der theodosianischen Prinzessin und späteren Kaiserin Galla Placidia gewidmet. Die Halbschwester des Hauptstadtgründers Honorius erlebte die Aufsehen erregende Verwandlung von Ravenna mit. Als 19-Jährige wurde die Römerin von den Goten als Geisel genommen, blieb es drei Jahre lang und musste den Gotenkönig Athaulf heiraten. Ihr Sohn Valentinian wurde als Sechsjähriger zum Kaiser gekrönt. Die Kaiserinmutter regierte in seinem Namen. Sie ließ in Ravenna einige der berühmtesten frühchristlichen Kirchen bauen. 13 Jahre lang, von 425 bis 438, leitete sie die zivile und kirchliche Verwaltung. Ihre Grabstätte ist eine der schönsten, die jemals gebaut wurden. Sie war an die Kirche des heiligen Kreuzes angeschlossen, welche die Kaiserin zwischen 425 und 450 errichten ließ. Die zweite große Kirche, die sie in Auftrag gab, ist die gewaltige Basilika San Giovanni Evangelista. Ihre Mosaiken zeigten neben den üblichen Elementen, wie Christus und die Evangelisten, Inschriften und Portraits von Vorfahren der mächtigen Kaiserin.

Wie Herrscher kirchliche Kunst zu Propagandazwecken verwendeten, zeigt auch die berühmte Palastkirche Saint Apollinaire Nuovo von Theoderich (493-526). Er war unter einem zentralen Bogen der Westwand thronend dargestellt. Da er jedoch Arianer war, ließ ein katholischer Erzbischof die Bilder des ketzerischen Königs und seiner Höflinge entfernen. Als Theoderich im Alter von rund 70 Jahren starb, hatte er 33 Jahre lang in Ravenna regiert. Das war eine ungewöhnlich lange Zeit und nicht weniger ungewöhlich war sein Mausoleum. Für das spektakuläre zweigeschossige Bauwerk ließ er weißen Marmor aus Istrien herbeischaffen. Es ist das einzige in Ravenna, das - mit seiner Kuppel aus einem Monolithen - vollständig aus Marmor besteht. Stilistisch orientiert es sich an den römischen Kaisergräbern des 4. Jahrhunderts, jedoch erweitert durch christliche und gotische Elemente.

Detailliert und kenntnisreich, dazu angenehm lesbar, beschreibt das neue Standardwerk "Ravenna" die Kunstwerke in ihrem politischen, sozialen und kulturellen Kontext. Der Zeitrahmen reicht bis zum allmählichen Abstieg der goldglänzenden Stadt an der Adria seit dem 7. Jahrhundert. Auf das Ende der byzantinischen Autorität in Ravenna in den 750er Jahren folgte eine Phase der Instabilität. … Seinen ersten Besuch stattete Karl (der Große) Ravenna im Jahr 787 ab. … Sie war eine wichtige Station der Route, die vom östlichen Teil seines Königreichs im heutigen Österreich über die Pässe südlich von Chur nach Friaul und dann weiter nach Süden, nach Treviso und Ravenna führte. … Er war nicht zufällig nach Ravenna gekommen. Er wollte Säulen, Kapitelle und Marmor aus der Stadt mitnehmen, um damit das neue Schloss und die Kirche zu dekorieren, die er in Aachen plante…. Auch die Kirche San Vitale beeindruckte ihn sehr und inspirierte sein eigenes Gotteshaus in Aachen. Ein achteckiges Gebäude mit Kuppel gab es bis dato in Nordeuropa noch nicht.

Es ist eine faszinierende Reise, die Judith Herrin in ihrem 600-seitigen Werk anbietet. Sie schließt es: Karl der Große wird traditionell als "Vater Europas" gepriesen. Doch die Grundlagen des westlichen Christentums, das er personifizierte, wurden in Ravenna gelegt. Hier formten Herrscher, Exarchen und Bischöfe, Gelehrte, Ärzte und Juristen, Mosaikbauer und Händler, Römer und Goten, und später Griechen und Langobarden die erste europäische Stadt.

hmw