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Bettina Ludwig: Unserer Zukunft auf der Spur#

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Bettina Ludwig: Unserer Zukunft auf der Spur. Wer wir waren, wer wir sind, wer wir sein können. Verlag Kremayr & Scheriau Wien. 176 S., € 23,-

Seit einigen Jahren ist "Spurensuche" ein beliebter (Unter-)Titel bei Neuerscheinungen. Fast 1000 Bücher beim deutschsprachigen Marktführer im Sortimentsbuchhandel tragen ihn. In der Kultur-und Sozialanthropologie (früher Ethnologie oder Völkerkunde genannt) beschäftigt sich eine Forschungsrichtung mit Jäger-und SammlerInnen-Gesellschaften und ihrer Kunst der Spurensuche. Die internationale Conference on Hunting und Gathering Societies vereint AnthropologInnen, ArchäologInnen, BiologInnen, LingustInnen und PsychologInnen. Im Project Cyber Tracker geht es speziell um die Fertigkeit des Fährtenlesens, wie man sie in Jäger-und SammlerInnen-Gesellschaften beherrscht.

In diesem Teilgebiet der Kultur- und Sozialanthropologie engagiert sich Bettina Ludwig. Ihre erste Feldforschungsreise führte sie 2017 in die Savanne der Kalahari. In Namibia lernte sie die Welt der Ju/'hoansi kennen. Es stellte sich heraus, dass die Auseinandersetzung mit Jäger und SammlerInnen mich sehr viel mehr über die Vergangenheit, die Gegenwart und die Zukunft unserer Menschheit lehrte, als ich das hätte erahnen können. Ich lernte zu verstehen, dass die so genannte Gesellschaftsvergleichende Forschung uns einiges über die Natur des Menschen lehren kann. Gleichzeitig begriff ich, dass sie uns viel über allgegenwärtige Missverständnisse rund um eben diese Natur verrät. Diese Missverständnisse will die freie Wissenschaftlerin aufklären, ihre Erkenntnisse über Kultur und Natur weitergeben. Kultur ist unsere Natur, ist Bettina Ludwig überzeugt. Ihr Ziel ist ein neues Menschenbild, eine neue Weltanschauung. Es lohnt sich in jedem Fall, sich mit ihren Darlegungen auseinander zu setzen, ethnologisch, philosophisch, lebenspraktisch.

Im ersten Teil, Dem Menschen auf der Spur erklärt die Autorin das Arbeitsgebiet der Kultur- und SozialanthropologInnen: Sie versuchen die menschliche Kultur und menschliche Organisation in all ihren Facetten zu erfassen und zu beschreiben. Grundlage dafür sind sowohl empirische … Erkenntnisse, als auch historische Daten. Wie im verwandten Vielnamenfach der Europäischen Ethnologie/Volkskunde/empirischen Kulturwissenschaft haben manche Meinungen ein zähes Leben, die wissenschaftlich nicht mehr haltbar sind. Das beginnt mit Bezeichnungen wie "Urvölker" oder "primitive Naturbewohner" für die indigene Bevölkerung. Wenn im heutigen Wissenschaftsjargon von simplen, weniger komplexen oder komplexen gesellschaftlichen Strukturen die Rede ist, tragen diese Begriffe keine Wertung in sich. Das Stufenmodell, wonach sich eine Gesellschaft von einem unzivilisierten Stadium zu modernen Gesellschaftsformen entwickle, hat keine Gültigkeit mehr. Jäger-SammlerInnen-Gesellschaften sind weder primitiv noch unterentwickelt, sondern eine Gesellschaftsform von vielen. Wie unterschiedlich diese Formen sind, zeigen Definitionen. WEIRD societies steht für Western, educated, industrialized, rich, democratic. Charakteristika von Egalitarian Societies sind eine verwandtschaftsbasierte soziale Organisation, ein dezentrales nicht-hierarchisches politisches System, Teilprinzip statt Besitztum, Jagen und/oder Fischen und Sammeln als Haupt-Versorgungsstrategie sowie eine geringe Bevölkerungsdichte und kleine Gruppengrößen. Es ist auch irrig, Vorstellungen über steinzeitliche Menschen in die Gegenwart zu projizieren. Die romantische Idee vom harmonischen Leben in der Natur oder das Bild vom feindseligen Kampf ums Überleben sind nach heutigem Stand der Wissenschaft nicht mehr tragbar. Mit diesen falschen Annahmen gilt es aufzuräumen.

Derzeit gibt es rund ein Dutzend hunter gatherer societies. Man findet sie im Amazonasgebiet, im südlichen Afrika, in Thailand, Tansania und auf den Nordphilippinen. Im Zuge ihrer Forschungen bei den San (Sammelbegriff für indigene Bevölkerungsgruppen im südlichen Afrika) kristallisierten sich für Bettina Ludwig fünf Fakten heraus: Fakt 1: Die Menschen vor Ort sind nicht isoliert. Sie haben sehr gut verstanden, was Touristen sehen wollen. "Living museums" verschaffen manchen ein gewisses Einkommen: Es wird in Lendenschurzen getanzt und gesungen, mit Pfeil und Bogen gejagt und aus den Schalen von Straußeneiern traditioneller Schmuck hergestellt. Die Tatsache, dass vor Ort ausnahmslos niemand mehr Lendenschurze trägt, die Pfeile bei dieser Art von Show-Jagden stumpf sind und die Straußeneier von Straußenfarmen in der Region importiert werden, ist den BesucherInnen nicht bewusst. Fakt 2: Meine Welt ist für die Jäger und SammlerInnen nicht interessant. … Fakt 3: Über Forschungsvorhaben wacht die Ethikkommission. … Fakt 4: Sich seiner Privilegien bewusst sein … Fakt 5: Als Forscherin baut man eine persönliche Beziehung zu den Menschen auf.

Nachdem Bettina Ludwig ihr Forschungsfeld vorgestellt hat, begibt sie sich im zweiten Teil auf Spurensuche in unsere Vergangenheit. Die hohe Kunst des Spurenlesens … leistet einen Beitrag dazu, das Wesen des Menschen in all seiner Komplexität wieder ein Stück weit besser zu verstehen. So fand sie überraschende Parallelen zwischen Wissenschaft und Fährtenlesen, das sie genau dokumentiert. Der dritte Abschnitt, Ein Weg, diverse Spuren, widerlegt festgefahrene Annahmen durch Gegenbeispiele. Zur Frage der angeborenen Gewaltbereitschaft wird in Diskussionen oft der Vergleich mit Affen herangezogen. Die Autorin zeigt, dass biologistische Erklärungsmodelle nicht haltbar sind. und widerspricht den Hypothesen der bekannten Verhaltensforscherin Jane Goodall. Diese beschrieb drei Ereignisse, die Gewaltbereitschaft und Kriegsverhalten von Schimpansen skizzieren sollten. Die Tiere verhielten sich jedoch nur so, weil Menschen in ihre Lebenswelt eingegriffen hatten, um Studien durchzuführen. In der modernen Biomythologie werden äußere Umstände selten erwähnt. Ein anderer Mythos ist der von den gewaltsamen Steinzeitmenschen. Archäologische Funde belegen, dass kriegerische Auseinandersetzungen in vorgeschichtlichen Zeiten eine absolute Ausnahme darstellten. Erst als mit der Sesshaftwerdung der Ressourcendruck stieg, waren Konflikte vorprogrammiert.

Im vierten Kapitel geht es schließlich um die Zukunft. Anhand der Stichworte "Zeit" , "Naturverbundenheit", "Eigentum" und "Gewaltbereitschaft" zeigt die Autorin, was WEIRD societies von Egalitarian Societies lernen könnten. Natürlich nicht 1:1, aber als vielleicht überlebenswichtige Impulse. Sie fragt, was wäre, wenn wir unser Konzept von Zeit, Zeit-Einteilung und Zeit-Wahrnehmung neu ausrichten? Statt zu beklagen, dass uns die Kultur die Natur wegnimmt, könnten wir kulturelle Praktiken entwickeln, die Natur in unser Leben einzubinden. … Es geht weniger um ein Natur-Defizit-Syndrom als um ein Gemeinschafts-Defizit-Syndrom. Bei den San steht die Community im Vordergrund, allerdings unter Verzicht auf Privatsphäre und Individualität. Sie streben nicht nach persönlichem Eigentum und stellen Gegenstände nur her, wenn sie gebraucht werden. Hier könnte man sich fragen: Brauche ich das wirklich? , mit dem Ziel, weniger anzuhäufen und weniger Druck zu verspüren, Zeit in Geld umzuwandeln, um jenes schließlich wieder in mehr Besitz umzuwandeln. Über Gewaltbereitschaft schreibt die Autorin: Was wir tun können: den Glauben an die Menschheit nicht verlieren. … So pathetisch es klingen mag: wir brauchen einander, und das einzige, was wir tun können, ist es, unsere Zeit der Gemeinschaft zu widmen und unseren Beitrag zu ihrem Funktionieren zu leisten.

hmw