Edgar Niemeczek - Hermann Schultes (Hg.): Vom Leben in der Region Marchfeld#
Edgar Niemeczek - Hermann Schultes (Hg.): Vom Leben in der Region Marchfeld. Kulturregion Niederösterreich GmbH St. Pölten. 250 S., ill. € 29,90
Die Publikationen "Vom Leben in der Region" der Volkskultur Niederösterreich haben Tradition. Jedes Jahr freut man sich über einen neuen Band. Die großzügig gestalteten Bücher stehen meist im Zusammenhang mit den Landesausstellungen. So ist heuer das Marchfeld an der Reihe. Von März bis November 2022 präsentiert das revitalisierte Schloss Marchegg "Mensch.Kultur.Natur." Das Themenspektrum des Begleitbuchs ist ebenso breit gestreut wie die Berufe der AutorInnen: p.r.- Expertin, Pädagogin, Schriftstellerin, Tischlermeister, Museumsleiter, Architekt, Journalist, Biologe, Flugbegleiterin, Kulturvernetzerin, Pfarrer, Historiker, Zeitzeuge, Landwirtin, Künstler. Als Herausgeber zeichnen der langjährige Leiter der Volkskultur Niederösterreich, Edgar Niemeczek, und der frühere Landwirtschaftskammerpräsident Hermann Schultes verantwortlich. Es ist ihnen gelungen, die Region in allen ihren Aspekten vorzustellen. Das Marchfeld ist weit mehr als eine große, landwirtschaftlich geprägte Ebene an der Staatsgrenze mit berühmten Schlössern und einem Nationalpark. Um Struktur in die Vielfalt der rund 40 Beiträge zu bringen, haben sich die Herausgeber für eine Gliederung in sechs Blöcke entschieden.
Lebendige Geschichte(n) sind gleichermaßen vergangen und doch präsent. Franz Sümecz beginnt chronologisch mit der Besiedlung und den Marchfeldschlössern. Am spektakulärsten ist die Revitalisierung von Schloss Hof. Hingegen zählen die mittelalterlichen Wehrkirchen zu den Geheimtipps. Jene von Markgrafneusiedl nennt der Verfasser eine der skurrilsten Ruinen Österreichs. Sie wurde im 12. Jahrhundert auf einem Hügel oberhalb des Ortes errichtet. Schon 1683 zerstört, war der ehemalige Sakralbau in den Napoleonischen Kriegen heftig umkämpft. Danach entstand aus den Resten eine Windmühle, die 1862 ausbrannte. In Haringsee befindet sich, laut Pfarrhomepage, "wahrscheinlich das älteste Gotteshaus des Marchfeldes". Das lässt sich zwar mangels Urkunden nicht belegen doch vieles spricht dafür, wie das Patrozinium (die erste Jahrtausendwende brachte eine Verehrungswelle des hl. Laurentius). Die Hauptstraße führt von West nach Ost und bildet gegen die Ortsmitte einen Breitanger. In seiner Mitte steht auf einem Hügel die frühgotische Pfarrkirche "Zum hl. Laurentius" mit ihrem beherrschenden Ostturm, weiß Alfred Wolf. Er verbrachte Ferien im Marchfeld vor 90 Jahren. Seine Erinnerungen lassen das Dorfleben von einst lebendig werden. Vom innovativen Onkel ist die Rede, der als Feuerwehrkommandant das erste Löschfahrzeug mit Motorspritze anschaffte, von der gefährlichen Kalkgrube und der liebevollen Großmutter oder Ausflügen mit dem Pferdewagen in die Stopfenreuther Au: Diese Gegend war für das Stadtkind ein Wunderland.
Das zweite Kapitel ist der Lebensfreude gewidmet. Dazu gehört das Entdecken der versteckten Schönheiten abseits der Verkehrswege, über die David Staretz meditiert: Die Vorahnung der pannonischen Ebene, der weite Himmel mit behäbigen Wolkentürmen, lassen auch die Seele auf Reisen gehen. Für die Seelen sorgen Geistliche wie Helmut Schüller. Der Pfarrer von Probstdorf und seine Gemeindemitglieder beweisen immer wieder: Die Gemeinden sind Kirche an der Basis der Gesellschaft. Sie sind nicht für sich selbst da. … Die Gemeinden haben den Menschen und der Gesellschaft ihren Dienst anzubieten. Gelegenheit, zu zeigen, wie das Christliche in der jeweiligen Zeit zu leben ist, bot das Jubiläumsjahr 2021. Tausend Jahre zuvor hatte Kaiser Heinrich II. die Gegend dem deutschen Kanonikerstift Weihenstephan geschenkt. Ihm verdankt das "Dorf des Probstes" seinen Namen. Die Gemeinde hat sich zur einwöchigen Feier einiges einfallen lassen. Fotos zum Artikel Kirche heute - Struktur für morgen zeigen gut gelaunte Menschen beim Tortenanschnitt, Kabarett, Vernissage, Konzert und den Festgottesdienst mit Kardinal Christoph Schönborn. Die Backstube kreierte ein Milleniums-Brot aus alten Getreidesorten und die Pfarre gab ein Millenium-Kochbuch heraus.
Im Marchfeld sind kreative Menschen zu Hause. Ihnen widmen sich der dritte und vierte Teil des ansprechenden Buches, Lebenswege- Leidenschaften und Lebensprojekte - Start-ups, die gelungen sind. Edgar Niemeczek hat den ehemaligen Wiener Gärtner Pepi Hopf besucht. Hopf züchtet als Biobauer Gemüseraritäten und findet im Marchfeld Inspirationen für seinen Zweitberuf als Kabarettist. Der Urvater der österreichschen Stand-up-Comedy-Szene organisiert auf dem örtlichen Sportplatz die Großveranstaltung Kabarett in Haringsee. Wenn gerade keine auf dem Programm steht, trainiert er die Nachwuchsfußballer seiner Wahlheimat. Ulrike Potmesil porträtiert Bernhard Zehetbauer, der mit seinem Cousin die gleichnamige Fertigrasen-Firma führt. Ihr Großvater hatte sich auf dem Gut Matzneusiedl als Zwiebelbauer profiliert. Innovativ wie er, lernten seine Enkel bei einem Studienaufenthalt in den USA rollbaren Fertigrasen kennen. Mit dem Pioniergeist ihres Vorfahren begannen sie die Rasenproduktion. Aus ehemals 100 Hektar Pachtfläche für den Zwiebelanbau entstand binnen drei Generationen ein Unternehmen, das sich auf dem internationalen Markt behauptet.
Landwirtschaft ist ein Thema mit Variationen. Darum geht es im fünften Kapitel. Lebensmittel. Alles da - für viele. Hier erzählt der frühere Kammerpräsident Hermann Schultes Vom Essen, von den Bauern, von der Arbeit vieler Hände. Der Grundsatzartikel gibt umfassenden Einblick in dieses für Österreich lebenswichtige Kapitel. Das Marchfeld ist nicht nur dessen "Kornkammer", sondern mit 7000 Hektar Anbaufläche auch das größte Gemüseanbaugebiet Niederösterreichs. Die Herausforderungen steigen. Ausbildung, Wasserversorgung, das Diktat des Marktes, Klimawandel, Biodiversität, Natur- und Umweltschutz sind nur einige davon. Vor 20 Jahren gab es im Marchfeld 1100 Landwirtschaftsbetriebe, jetzt kaum 700. Manche finden Alternativen. So haben zwölf Spargelbauern das Gemüse zu einer internationalen Spezialität entwickelt. Seit 1996 ist "Marchfeldspargel" eine geschützte geographische Angabe in der EU. Die Lebensmittelproduktion sichert Überleben für alle und Wertschöpfung für viele. Zusammenarbeit und Partnerschaft ist die Antwort, schließt Schultes dieses Kapitel. In einem weiteren Alles vom Himmel - unser Wasser macht er auf den wahren Schatz der Region aufmerksam. Für viele Leser ist es wohl überraschend, von den riesigen Grundwasserreserven zu erfahren: In den tiefen Schotterwannen ruhen mehr als eine Milliarde Kubikmeter Wasser. So viel wie das Volumen des Wörthersees und des Ossiacher Sees zusammen.
Wasser ist Leben. Lebensräume - Wunder Natur beschließt den Bild-Text-Band, der gleichermaßen schön anzusehen, wie informativ und angenehm lesbar ist. Literarische Beiträge und Kochrezepte dürfen da nicht fehlen. Im letzten Kapitel ist Carl Manzano der schreibende Experte. Der langjährige Direktor des Nationalparks Donau-Auen zitiert den Nobelpreisträger Konrad Lorenz und die Auen-Ökologin Elfrune Wendelberger. Sie gab ihrem Buch den programmatischen Titel Grüne Wildnis am großen Strom. Im Winter 1984 verhinderten Anti-Hainburg-Aktivisten den geplanten Kraftwerksbau. Carl Manzano war einer von ihnen. Nun schreibt er: Der Nationalpark mit seinem Anspruch freier Fluss, wilder Wald feierte 2021 sein 25-jähriges Bestehen. Jetzt kann man sehen, was die Vision der "grünen Wildnis am großen Strom" tatsächlich bewirkt hat.