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Brigitta Schmidt-Lauber, Manuel Liebig (Hg.): Begriffe der Gegenwart#

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Brigitta Schmidt-Lauber, Manuel Liebig (Hg.): Begriffe der Gegenwart. Ein kulturwissenschaftliches Glossar. Böhlau Verlag Wien - Köln. 312 S., € 24,-

Sprache stellt Welt her. In diesem Buch geht es um die Wirkmächtigkeit von Wörtern, die wir selbstverständlich im gesellschaftlichen Alltag verwenden, beginnt Brigitta Schmidt-Lauber, Universitätsprofessorin und Vorständin am Institut für Europäische Ethnologie der Universität Wien, das Glossar. Es richtet sich an MultiplikatorInnen, JournalistInnen, LehrerInnen, SchülerInnen, StudentInnen, an Wissbegierige, die sich ihre eigene Meinung bilden … die den gesellschaftlichen Wortgebrauch reflektieren und ihr Begriffsverständnis schärfen wollen. AutorInnen sind namhafte WissenschaftlerInnen aus den Fächern Europäische Ethnologie, Kultur- und Sozialanthropologie, Geschichtswissenschaft, Politikwissenschaft, Soziologie und Philosophie. Sie beweisen, dass es bei aller Expertise möglich ist, ein für das "breite Publikum" informatives, verständliches Buch zu schreiben. Die Beiträge sind klar strukturiert: Definition, gesellschaftspolitische Situation und Aktualität, Begriffsgeschichte als Gesellschaftsgeschichte, Sprachgebrauch und dessen Veränderung, Wissenschaftsgeschichte, Ausblick.

Auf der Basis von Beobachtungen des öffentlichen Diskurses wurden 32 Begriffe ausgewählt - Schlagwörter, die auf Wahlplakaten, in Zeitungen, Politiker-Ansprachen oder Talkshows auffallen. Fast die Hälfte hat mit Migration zu tun: Asyl, Fluchthilfe, Flüchtling, Integration, Islam, Migrationshintergrund, Rassismus, Willkommenskultur. Ihnen stehen Begriffe wie deutsch, einheimisch, ethnisch, Europa, Heimat, Identität, Nationalstaat oder Volk gegenüber. Die Kulturwissenschaften sprechen von Othering, wenn Wörter genutzt werden, die Menschen Positionen als "Andere" zuweisen und eine Grenze zwischen "eigen" und "fremd", "wir" und "sie" ziehen bzw. plausibel und natürlich erscheinen lassen. Persönliche Gefühle und Gegebenheiten - Angst, Sicherheit, Geschlecht/Gender, Verwandtschaft - werden ebenso behandelt wie Demokratie, Globalisierung, Kultur, Moderne oder Werte. Schließlich die sogenannt klassisch-volkskundlichen Themen wie Brauch, Gemeinschaft, Kulturelles Erbe, Tradition und Volkskultur.

Volkskultur ist ein Begriff, der seiner wechselvollen Geschichte zum Trotz populär geblieben ist. Er ist zu einem Topos geworden, wenn es darum geht, sich über regionale und meist traditionelle Kultur zu verständigen, schreibt die deutsche Ethnologin Silke Göttsch-Elten. Wer von Volkskultur spricht, sollte sich im Klaren darüber sein, was damit aufgerufen wird bzw. werden soll, und wenn über Volkskultur gesprochen wird, sollte genau hingehört werden, welche Subtexte dabei mit artikuliert werden. Im wissenschaftlichen Diskurs setzt man "Volkskultur" nun vielfach unter Anführungszeichen, um sich vom Alltagssprachgebrauch zu unterscheiden. Den Begriff zu ersetzen, ist ebenso wenig gelungen, wie bei "Brauch" oder "Heimat".

Das Wort Brauch mutet heute altmodisch an, seine Kontur bildete sich aber erst zu Beginn des 19. Jahrhunderts aus und gewann mit der Moderne zunehmende Bedeutung. … Bräuche lassen sich insofern als Inszenierung einer vergangenen Ordnung verstehen, die wie ein Symbol der Überschaubarkeit aus einer vergangenen, "heilen" Welt erzählen, schreibt Konrad Köstlin, der 1994 bis 2008 dem Wiener Volkskunde-Institut vorstand. Die in der Wissenschaft häufig zu beobachtende Abkehr vom Begriff Brauch und sein Ersetzen durch das Wort Ritual klingt zwar gelehrt und mag dem Missbrauch im Nationalsozialismus geschuldet sein, bedarf aber der genauen Abwägung. … Mit der Moderne, die gesellschaftliche Transformationen und eine erhebliche Beschleunigung benennt, erfährt der Bedarf nach Fundierungen und festen Rahmungen sogar Konjunktur, betont der Autor, der als altartiger Generalist dem Zusammenhang von Volkskultur und Moderne mit Lust nachgeht. Anlässe für Bräuche finden sich zahlreiche und ständig neue … In Medien, Politik und Wirtschaftszweigen sind heutzutage regelrechte Brauchagenturen zu beobachten. Bräuche lassen sich speziell im Tourismus gut vermarkten, womit sie zugleich identitätsstiftend wirken sollen.

Identitätsstiftend wollten schon vor Generationen die Bewegungen für Heimatschutz und Heimatpflege wirken. Heimat weder zu verklären noch zu negieren, sondern als kontroverses Schlüsselthema der Moderne zu verstehen, gibt den Blick frei auf verschiedene Kontexte und Prozesse, schreibt Simone Egger. Die Assistentin am Institut für Kulturanalyse der Alpen-Adria Universität Klagenfurt hat dem Sehnsuchtsort Heimat vor einigen Jahren ein Buch gewidmet. Um 1800 wurde Heimat als romantischer Sehnsuchtsort mit emotionaler Bedeutung aufgeladen und in Bildern, Liedern und literarischen Texten ästhetisch in Szene gesetzt. Die historische Volkskunde hat wesentlich zu populären Vorstellungen von "Heimat" beigetragen.

Aus der Volkskunde ist das Vielnamenfach Europäische Ethnologie, Empirische Kulturwissenschaft, Kulturanthropologie, (Alltags-)kulturwissenschaft geworden. Dabei gehe es, so der Mitherausgeber Manuel Liebig, um einen Transfer wissenschaftlicher Erkenntnisse in die Gesellschaft, um eine Demokratisierung des Wissens voranzubringen und damit als Wissenschaft Verantwortung zu übernehmen. … Dies schließt die Vermittlung wissenschaftlicher Erkenntnisse und Lösungsansätze in breitere Öffentlichkeiten ein, um Analysen und Kritik nicht zum Selbstzweck zu betreiben und sich in gesellschaftlichen Aushandlungen zu positionieren. Der vorliegenden Band zeigt, wie dies gelingen kann. Mit Brigitta Schmidt-Lauber ist den AutorInnen zu danken, dass sie sich von geläufigen akademischen Darstellungsweisen entfernt, auf knappem Raum viele Erkenntnisse und Wissen verbunden und dabei sowohl der Allgemeingültigkeit als auch der Beispielhaftigkeit Rechnung getragen haben.

hmw