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Markus P. Swittalek: Das Gründerzeithaus#

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Markus P. Swittalek: Das Gründerzeithaus. Bewahren - Restaurieren - Bewirtschaften. Kral-Verlag Berndorf. 376 S., ill., € 39,90

Gründerzeithäuser prägen das Wiener Stadtbild. Doch die Zahl der klassischen "Zinshäuser" nimmt ab, allein zwischen 2007 und 2019 um mehr als 2000 Gebäude oder 12 Prozent, Nicht alle wurden demoliert, sondern der überwiegende Teil als Eigentumswohnungen parifiziert. Ihre solide Bauweise und hohe Wohnqualität lockt Investoren an, doch häufig schaden moderne Umbauten der Substanz.

Als Gründerzeithäuser werden mehrgeschossige Mietwohnhäuser bezeichnet, die in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts bis zum Ersten Weltkrieg entstanden. Ringstraßenpalais zählen ebenso dazu wie Cottagevillen und Arbeiterwohnhäuser. Gründerzeithäuser repräsentieren einen wichtigen Teil unseres kulturellen Erbes, das es für künftige Generationen zu erhalten gilt, schreibt Markus P. Swittalek, Architekt mit Arbeitsschwerpunkt im Bereich Planen und Bauen im historischen Bestand, Denkmalpflege, Kulturgüterschutz und UNESCO-Welterbestätten. Sein jüngstes Buch ist äußerst aufschlussreich und bestens geeignet, Interesse für ein faszinierendes Thema zu wecken, das allzu selbstverständlich erscheint. Außer über die historische Entwicklung erfährt man viel Neues über Planung, Baustoffe, Substanzerhaltung, Restaurieren und Transformieren. Mehr als 500 Abbildungen zeigen historische Pläne und Abbildungen sowie gegenwärtige Beispiele, meist vom Autor selbst fotografiert.

Die Geschichte des Wohnhauses in der Gründerzeit beginnt mit der Zeitenwende der "deutschen Revolution", die 1848 Wien erfasste. Sie führte zu wesentlichen Veränderungen in gesellschaftlicher, wirtschaftlicher, sozialer und technischer Hinsicht. In Wien stellte das viel zitierte Handschreiben Franz Josephs vom 20. Dezember 1857 einen wesentlichen Einschnitt dar. Der Kaiser verfügte die Auflassung der Stadtbefestigung, der die Anlage der Ringstraße folgte. 85 Wettbewerbsprojekte langten ein. Realisiert wurde eine Kombination dreier Einreichungen - von Friedrich Stache, Ludwig Förster sowie August Sicard von Sicardsburg und Eduard van der Nüll. Die feierliche Eröffnung des Boulevards erfolgte am 1. Mai 1865, lange vor der tatsächlichen Fertigstellung. An der Ringstraße lagen die attraktivsten und teuersten Wohnungen, doch auch außerhalb wurde eifrig gebaut. 1890 zählte Wien (mit den eingemeindeten Vorstädten und Vororten) 1,34 Millionen Einwohner, 1918 waren es 2,23 Millionen. Im neuen Wien entstanden von etwa 1860 bis 1914 Gründerzeithäuser in ganz unterschiedlichen Lagen und Größen … in erster Linie Wohn- und Geschäftshäuser. Arbeiterwohnungen bestanden meist nur aus Gangküche und Kabinett, eventuell mit einem Zimmer. In den "Bassenahäusern" befanden sich Wasser und WC außerhalb der Wohnung. Kleinbürger fanden auf 45 bis 70 m² außerdem ein Vorzimmer und einen weiteren Wohnraum. Die Wohnungsgrößen für Bürger erreichten 55 bis 110 m², mit innen liegenden Sanitärräumen. Von außen war dieser Typ an Erkern, Balkonen und größeren Fenstern erkennbar. In den rasterartig geplanten Vierteln entstanden mehrgeschossige Reihenhäuser in geschlossener Bauweise. Die Bebauungsdichte war äußerst hoch, Grünanlagen selten.

Die Bauwirtschaft im 19. Jahrhundert war in hohem Maß von der menschlichen Arbeitskraft abhängig. Der wichtigste Energieträger war die Steinkohle. Sie betrieb die Dampfmaschinen in den Fabriken und wurde zu Koks und Gas für Heizung und Beleuchtung verarbeitet. Um die gründerzeitlichen Wohnhäuser zu errichten, brauchte man nicht nur zahlreichen Helfer und ArbeiterInnen in den Ziegeleien, sondern auch spezialisierte Handwerker wie Zimmerleute, Dachdecker, Maurer, Terrazzo-Bodenleger, Hafner, Glaser usw. Für Baugesellschaften und Spekulanten waren Zinshäuser lohnende Investitionen. Die städtische Infrastruktur verbesserte sich. Bahnhöfe, Stadt- und Straßenbahnlinien, Gas- und Stromleitungen, Wasserleitungen und Kanalisation zählten dazu. Auch die Architektur änderte sich, um die Jahrhundertwende löste der Jugendstil den Historismus ab. Mit Ausbruch des Ersten Weltkriegs kam die Wiener Stadtentwicklung schlagartig zum Erliegen. … Doch bis über den Gürtel hinaus und vor allem im Inneren der Stadt hatte sich bis dahin eine dichte Stadtstruktur gefestigt. Die Basis dafür bildet bis heute das gründerzeitliche Wohnhaus - kurz auch Zinshaus genannt.

Der Autor spricht sich deutlich für die Bewahrung dieser Bauten aus, deren Anzahl schon stark abgenommen hat. Im Zweiten Weltkrieg wurden bei 53 Luftangriffen auf Wien 28 % des Gebäudebestands zerstört bzw. beschädigt. In der folgenden Modernisierungwelle hat man Fassaden "abgeräumt" und historische Objekte jahrzehntelang nicht wertgeschätzt, sondern demoliert. Der Autor vergleicht die sogenannten Altbauten mit Oldtimern. Sie sind etwas Besonderes, brauchen aber auch besonderes Engagement.

Der Untertitel "Bewahren, Restaurieren, Bewirtschaften" zeigt, dass es bei Gründerzeithäusern nicht nur um die Erhaltung geht. Kaum eines befindet sich nach 100 und mehr Jahren im ursprünglichen Zustand. Bedürfnisse und soziale Strukturen haben sich geändert, doch diese Bauwerke sind erstaunlich anpassungsfähig. So erlauben die Ziegelwände, anders als bei modernen Stahlbetonbauten, flexible Raumeinteilungen. Einbauten sind möglich. Adaptierungen erfordern Kompetenz und Gespür. Moderne Baustoffe sind etwas für Neubauten und vertragen sich - bautechnisch wie ästhetisch - nicht immer mit dem Bestand.

Fenster sind die Augen eines Hauses. Augen sind sehr empfindlich und kostbar und machen einen Menschen unverwechselbar … sie sind nicht ersetzbar. Das gilt auch für die Augen eines Hauses - ein Fenstertausch kommt manchmal einem Verlust des Augenlichtes gleich. Die klassischen Wiener Fenster halten, gut gepflegt, ein bis zwei Jahrhunderte. Kunststofffenster erreichen im besten Fall eine Lebensdauer von 40 Jahren. Sie verursachen oft hohe Zusatzkosten und können, weil die Schimmelbildung gefördert wird, sogar gesundheitsschädlich sein. Der Austausch von Holzkastenfenstern gegen Kunststoff-Isolierglasfenster verändert die Fassade und damit das Stadtbild. Das gilt auch für die Wärmedämmung mit Polystyrol. Nicht nur werden dadurch Fassaden optisch ruiniert, sie sind auch nicht mehr atmungsaktiv. Gründerzeithäuser mit Holzkastenfenstern brauchen viele dieser zusätzlichen Maßnahmen nicht, weil sie … quasi selbstregulierend wirken. Den auffallendsten störenden Eingriffen - Dachgeschoßausbauten und Garagen - ist ebenfalls breiter Raum gewidmet. Der Verfasser referiert sie kritisch, aber nicht wertend.

In Österreich befinden sich etwa 590.000 Wohnungen, die vor dem Jahr 1919 errichtet worden sind, das sind etwa 15 % des Baubestandes. In Wien sind das etwa 32.000 Gebäude, von denen circa 22.000 gründerzeitlicher Zinshausbestand sind. Sie stellen ein Vielfaches der Bauproduktion dar und haben einen sehr hohen Wiederbeschaffungswert. Dieser wird (für ganz Österreich) auf 83 Mrd. € geschätzt und beträgt damit ein Vielfaches der Jahresbauproduktion. Gründerzeithäuser sind auf einen sehr langen Zeitraum ausgelegt und daher zukunftstauglich. Solide und wartungsarme Konstruktionen, natürliche Baumaterialien machen historische Gebäude wertvoll, sodass hochattraktive Wohnungen geschaffen werden können, die aktuellen Nutzungsanforderungen perfekt entsprechen. Lange Nutzungsdauer, die Verwendung nachwachsender Baustoffe, die Nutzung von regionalen Ressourcen - diese Ziele werden von gründerzeitlichen Wohnhäusern in aller Regel besser erfüllt als von einem Wohnungsneubau. Ihre Erhaltung liegt nicht nur im Interesse ihrer Eigentümer und Bewohner, sondern auch im öffentlichen Interesse.

hmw