Helmut Wittmann (Hg.): Das große Österreichische Sagenbuch #
Helmut Wittmann (Hg.): Das große österreichische Sagenbuch, mit Texten von Wilhelm Kuehs, Bernhard Lins, Robert Preis, Folke Tegetthoff, Brigitte Weninger, Helmut Wittmann und Zeichnungen von Jakob Kirchmayr. Tyrolia-Verlag Innsbruck - Wien. 326 S., ill., € 29,-
Seit 2010 steht "Märchenerzählen" in der Kategorie "Mündliche Traditionen in ganz Österreich" auf der UNESCO-Liste des Immateriellen Kulturerbes. In der Begründung heißt es: Märchenerzählen ist die Kunst, Menschen mit Geschichten auf spielerische und geistig anregende Weise zu unterhalten. … Durch das Erzählen von Märchen wird wesentlich zu elementarem Weltverstehen und moralischer Bildung beigetragen sowie gesellschaftliches und kulturelles Miteinander gefördert. Besser als jede Belehrung vermitteln Märchen und Sagen Wesentliches über die eigene und kollektive kulturelle Identität. Initiator war der (seit 1990 hauptberufliche) Märchenerzähler Helmut Wittmann.
Üblicherweise unterscheidet man zwischen Märchen, die mehr oder weniger der Phantasie entspringen, und Sagen mit einem angeblich wahren Kern. Moderne Storyteller trennen nicht mehr so streng. Vielmehr spricht Helmut Wittmann auf seiner Homepage von einem "fantasievollen Ohrenschmaus": Mit spielerischer Leichtigkeit erzählen sie von den wirklich wesentlichen Dingen! Manche dieser Erzählungen sind recht jung. Andere wieder wurden und werden seit Jahrhunderten überliefert. Generationen von Menschen haben sie angereichert – mit ihrer Lebenserfahrung und ihrem Wissen. Mir ist es deshalb wichtig, die Geschichten so zu erzählen, dass die Kraft, die in ihnen steckt, spürbar wird.
Helmut Wittmann und einige seiner ZunftgenossInnen haben in den letzten Jahren eine Reihe österreichischer Sagenbücher im Tyrolia-Verlag herausgegeben, die Jakob Kirchmayr mit seiner unverwechselbaren Handschrift illustriert hat. Als krönender Abschluss der Reihe ist jetzt "das große österreichische Sagenbuch" erschienen, das. "die faszinierendsten, spannendsten und bekanntesten Sagen" enthält. Sechs Profis erzählen 97 Geschichten, die, so der Herausgeber, "ein Best-of der Sagensammlungen in den einzelnen Bundesländern Österreichs" repräsentieren.
Für das erste Kapitel, Wien, ist die Tiroler Schriftstellerin Brigitte Weninger, zuständig. Die gelernte Elementarpädagogin publiziert in verschiedenen Zeitschriften, verfasst Kinderbücher und ist als Herausgeberin und Übersetzerin tätig. Hier wählte sie Sagen aus, die wohl jedes Wiener Kind kennt, wie "das Donauweibchen", "der liebe Augustin" oder "der Basilisk"."Meister Eisenarm und die vier Groschen" kommt hingegen nicht einmal im Internetforum "Sagen.at" vor. Die Sage handelt von einem Schmied, der jeden Tag, auch am Wochenende, so lang arbeitete, bis er vier Groschen verdient hatte: einen für die Armen, einen für den Vater, einen für die Frau und einen für sich selbst. Vom Kaiser wegen der Sonntagsarbeit zur Rede gestellt, fand er Verständnis. Bedingung war aber ein Schweigegebot, bis er das Gesicht des Herrschers hundert Mal gesehen hätte. Von Neugierigen über das Gespräch befragt, verlangte der schlaue Schmied hundert Gulden mit dem Portrait des Kaisers. Nachdem er die Münzen einzeln angesehen hatte, konnte er seinen Schwur erfüllen und wurde auch noch belohnt.
Niederösterreich wurde von Folke Tegetthoff bearbeitet. Der Schriftsteller trägt seinen Nachnamen zur Erinnerung an den verwandten österreichischen Admiral. Seit 1979 hatte Folke Tegetthoff 4000 Auftritte als Märchenerzähler, ist als Schriftsteller (mehr als 40 Bücher mit einer Gesamtauflage von rund 1,4 Millionen), Musikproduzent und Organisator von Erzählkunst-Festivals international bekannt. Phantasievoll erklärt er in der Sagensammlung beispielsweise "Wie die Weinstöcke ins Weinviertel kamen" oder wonach Harbach seinen Namen erhielt.
Aus dem Burgenland erzählt wieder Helmut Wittmann, unter anderem über den Neusiedler See, die Heilquelle von Bad Tatzmannsdorf, Bernstein und Güssing. Wenn man diese Storys liest, hört man den Meister sprechen, so markant ist seine Ausdrucksweise.
Die Steiermark ist Heimat, Geburtsort und Arbeitsplatz von Robert Preis. Nach dem Studium der Publizistik, Völkerkunde und an der Filmhochschule ist er als Redakteur der "Kleinen Zeitung", Kurator des Internationalen Straßengler Literaturfestivals und Romanschriftsteller tätig. Hier liefert er ätiologische Sagen über den Erzberg, den Schöckl und anderes.
Helmut Wittmann lebt mit seiner Frau und den fünf Kindern in Grünau im Almtal. Er gestaltet seit fast 30 Jahren in den ORF-Landesstudios Oberösterreich und Salzburg monatlich eine "sagenhafte Stunde". So hat er auch im Buch über diese Bundesländer geschrieben. Orte der Handlung sind u. a. Ried im Innkreis, Linz, Steyr, Grein und Gmunden, seine Nachbargemeinde. In Salzburg begegnet man Kaiser Karl dem Großen, dem legendären Paracelsus, der Nixe vom Wallersee und anderen seltsamen Gestalten.
Wilhelm Kuehs ist in Kärnten zu Hause. Er studierte Germanistik und Komparatistik, und schrieb nebenbei für Tageszeitungen. Später erhielt er Lehraufträge in Kroatien und Klagenfurt. Wilhelm Kuehs hat mehrere Romane und Sachbücher veröffentlicht, besondere Bekanntheit erlangte er mit Sagen aus Kärnten und der Adria-Region. Im Buch dürfen der Lindwurm zu Klagenfurt, Margarete Maultasch und "die schöne Frau vom See" nicht fehlen.
Die Tirolerin Brigitte Weninger hat sich neben Wien auch ihre Heimat vorgenommen. So erfährt man hier u.a. von den Riesen Haymon und Thyrsus, den tapferen Frauen von Kitzbühel und dem Schatz vom Arlberg.
Bernhard Lins ist Lehrer, Komponist, Sänger und Musiker in Vorarlberg. Er veröffentlichte mehrere CDs und zahlreiche Kinderbücher. Zum Abschluss des Sagenbuches stellt er den LeserInnen u. a. "Ehre Guta", ein kluges Hirtenbüblein und die "schöne Doggi-Magd" vor.
Als Herausgeber betont Helmut Wittmann die unterschiedliche Zugangsweise und den individuellen Erzählstil der einzelnen AutorInnen. Allerdings hätte man sich ihre Kurzbiographien gewünscht. Vielleicht eine Anregung für die nächste Ausgabe. Diese wird sicher früher oder später kommen, denn die Themen sind zeitlos. Der sagenhafte Märchenerzähler Wittmann schreibt: Neid, Missgunst, Gier, Herrschsucht, Verrat und Hinterlist, aber auch Großzügigkeit, Warmherzigkeit, Gerechtigkeitssinn, Tapferkeit und Großmut werden da geschildert. Und weil uns alle diese Eigenschaften auch in der Gegenwart nur zu vertraut sind, faszinieren diese meist uralten Geschichten heute noch.