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Karl C. Berger u. a. (Hg.): Es wäre ja schade, wenn alles geklärt wäre#

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Karl C. BERGER u. a. (Hg.): Es wäre ja schade, wenn alles geklärt wäre. Empirische Kulturwissenschaft als kritische Gesellschaftsanalyse. Innsbrucker Schriften zur Europäischen Ethnologie und Kulturanalyse, Band 6. Waxmann-Verlag Münster - New York. 342 S., 39,90 €

Seit die alte Volkskunde zum "Vielnamenfach" (Europäische Ethnologie, Kulturanthropologie, Empirische Kulturwissenschaft, Populäre Kulturen) geworden ist, hat sich ihr Forschungsfeld stark vergrößert. Das zeigt auch das vorliegende Buch, das dem Innsbrucker Professor Ingo Schneider gewidmet ist. An der Universität Innsbruck gehen Ansätze zu einer Institutionalisierung des Faches auf das 19. Jahrhundert zurück. 1859 wurde der Adelige Ignaz Vinzenz Zingerle (1825–1892) zum ordentlichen Professor der deutschen Sprache und Literatur an der Philosophischen Fakultät berufen. Nach der Fusionierung des mehrfach umbenannten Volkskunde-Instituts mit dem Institut für Geschichte wird es seit 2009 als "Institut für Geschichtswissenschaften und Europäische Ethnologie" bezeichnet. Der nun emeritierte "Befestschriftete" (R. Bodner) war hier in verschiedenen Positionen tätig: ab 1984 als Univ. Assistent, 2001 als ao. Univ. Professor und seit 2011 als Univ. Professor für Europäische Ethnologie. Ingo Schneider gilt als "breit aufgestellter Forscher und Hochschullehrer, in dessen Arbeiten Neugier, kognitive Beweglichkeit und Verantwortung zentrale Elemente sind." Zu seinen Forschungsschwerpunkten zählen u. a. Internationale Erzählforschung, Kulturtheorie und regionale Ethnographie. Zu diesen und weiteren Themen haben Karl C. Berger, Alexandra Bröckl, Valeska Flor, Jenny Illing, Gilles Reckinger und Martina Röthl das vorliegende Buch für Ingo Schneider herausgegeben. Der stattliche Band versammelt 19 Aufsätze von WegbegleiterInnen, KollegInnen und SchülerInnen.

"Erzählen ist eine soziale Praxis" und "Erzählforschung ist Gesellschaftsforschung", schreibt Silke Meyer, die gemeinsam mit Ingo Schneider Lehrveranstaltungen zu diesem Thema gehalten hat. Es gehe heute "nicht nur um Fragen der Überlieferung, um Kontinuität und Variation von Motiven, sondern es geht um die Offenlegung bestimmter gesellschaftlicher Problemlagen, die sich teilweise wenig verändert haben und die erzählerische Auseinandersetzung mit ihnen." Als ein Bespiel aus dem eigenen Umfeld stellt Silke Mayer den "Sandler im Hörsaal" vor. Die "Contemporary legend" erzählt von einem Obdachlosen, der sich in einem Hörsaal eine Wohnstätte einrichtete und sich durch Zufall verriet. 2021 beschäftigten "modere Sagen über Schlangen im WC" die Tagespresse - hier analysiert vom Psychotherapeuten Bernd Rieken. Martin Scharfe widmet sich der historischen Sicht: "Was 'zeigt' die Erzählung, was 'erzählt' das Bild? Zur medialen, substantiellen und seelengeschichtlichen Bedeutung von Berg-Ersteigungsgeschichten". Harm-Peer Zimmermann nennt seinen Beitrag über anthropologische und ästhetische Aspekte "Volkspoesie revisited". Der Begriff Volkspoesie wurde von Johann Gottfried Herder und den Brüdern Jacob und Wilhelm Grimm geprägt.

"Vom Narzissmus zur Kollaboration" übertitelt Irene Götz ihre "autobiographischen Erfahrungen mit einer eingreifenden Kulturanalyse." Einleitend zu ihren drei Thesen stellt sie fest: "… unser Vielnamenfach, …so gab es die berühmte Falkensteiner Formel vor, (sollte) virulente gesellschaftliche Probleme nicht nur beforschen, sondern auch bearbeiten helfen." Claudius Ströhle macht sich unter dem Titel "What is it like to leave the field? " Gedanken zum Feldausstieg in der ethnographischen Forschung. Die "Angst des Forschers vor dem Feld" (Rolf Lindner) ist angehenden WissenschaftlerInnen nur zu bekannt. Johanna Rolshoven referiert über "Kollisionen zwischen Wissenschaft und Leben"

Klassische "volkskundliche" Themen werden ideologiebefreit betrachtet. Konrad J. Kuhn beschäftigt sich mit der " 'Walser-Volkskunde'. Nahverhältnisse, alpin-kulturelle Rückprojektionen und die Wissenschaft über ein 'Bergvolk' ". Dietrich Thaler bringt neue Erkenntnisse über den "Weg der Karrenzieher " Wanderhändler und Kleinhandwerker versorgten seit dem 16. Jahrhundert abgelegene Gebiete mit Waren des täglichen Bedarfs. Sie lebten am Rande der Gesellschaft und kamen unfreiwillig weit herum . "Der Druck der Armut in verschiedenen Landesteilen Tirols war dabei die Antriebsfeder, nicht etwa der Wunsch nach einem freien, ungezwungenen Leben, wie es romantische Vorstellungen vom Leben der Fahrenden nahelegen." Anhand eines Reisepasses aus dem Jahr 1816 rekonstruierte der Autor das Leben einer Karrner-Familie, die im Lauf weniger Monate mit dem selbst gezogenen zweirädrigen Waren mehr als 2500 km über Berg und Tal zurücklegte. Auch andere Berufe sind von Interesse: Lukas Madersbacher zeigt "Werkmeister als Denker. Zur Frühgeschichte des Architektenporträts und der Imagebildung eines Berufsstandes." Nikola Langreiter widmet sich zwischen "Abscheu und Akzeptanz" dem "Hundemetzger von Lustenau".

Weitere Beiträge zeigen die große Bandbreite heutiger Forschung: Friedrich Pöhl nennt seine Abhandlung zu Kannibalendiskurs und Rassenideologie "Menschenfresser in Anthropologie und Ethnologie ". Martin Sexl beleuchtet "Die visuelle Produktion von Unsichtbarkeit. Oder: Wie Klasse durch Kultur verdeckt wird". Richard Schwarz interpretiert "Wirkung und Lebenslauf eines Zitats" ( " . . meine ganze Zeit . . . "). Werner Nicolussi denkt nach über die "Möglichkeit oder Unmöglichkeit, Gefühle mit jemandem zu teilen ". Direkt in die Gegenwart führt Klaus Schönberger in seiner "Theorie des Denkmalkommentars", die "Konflikte um Denkmäler als Kämpfe um den öffentlichen Raum" sieht. Mike Robinson widmet Ingo Schneider den "Schneider Master Rap".

Der Dialog von Kunst und Wissenschaft erweist sich als spannend. Darüber berichten Reinhard Bodner ("Volkskundliches Erbe, ethnographische Kunst, anthropologisches Engagement") und Ulrike Kammerhofer-Aggermann ("Kunst – Wissenschaft – Brauchtumsvereine"). Bodner organisierte 1916 im Innsbrucker Volkskunstmuseum ein Symposion und eine Ausstellung über die im Zweiten Weltkrieg tätige "Südtiroler Kulturkommission", der u. a. die Reichstrachtenbeauftragte Gertrud Pesendorfer (1895-1982) und der Salzburger Leiter des SS-Ahnenerbes Richard Wolfram (1901-1995) angehörten. Kernstück der Schau "Unbequeme Wissenschaft" waren geschnitzte Masken im Stil der Tiroler Krampusmasken. Der Intention des Kurators, des irischen Künstlers Gareth Kennedy, entsprach, dass besonders die Pesendorfer-Larve auf viele dämonisch wirkte.

Wie zäh sich die Theorien Richard Wolframs, der 1937 bis 1945 und 1954 bis 1973 an der Universität Wien Volkskunde lehrte, erwiesen, musste die langjährige Leiterin des Salzburger Landesinstituts für Volkskunde, Ulrike Kammerhofer-Aggermann erfahren. Ihr interdisziplinäres Projekt "Salzburger Tresterer" stellte die in den 1930er und 1940er Jahren geprägten Thesen historischer Quellenforschung und weiträumiger kultureller Kontextualisierung gegenüber. Das wurde von vielen Mitgliedern der Salzburger Heimatvereinigungen, die sich nicht von den überholten, ideologischen Deutungen ("Fruchtbarkeitsritus") des Brauches trennen wollten, als Affront verstanden. Sie forderten die Abberufung der Forscherin und die Schließung ihres Instituts. Hingegen gestaltete sich die Zusammenarbeit mit dem Künstler Thomas Hörl erfolgreich. Er spannte in seinen Arbeiten einen Bogen in die Gegenwart. "Seine Arbeiten waren sowohl Hommage, queere Wendung als auch kritische Hinterfragung des Brauches." Kammerhofers Projekt mündete in drei Ausstellungen, zwei wissenschaftliche und zwei künstlerische Publikationen. Ihre Quellenforschung erbrachte eine Reihe fundierter Ergebnisse, doch bleibt ein ungeklärter Rest. "Der Tanz ist historisch in Spuren fassbar - als Puzzle mit mehr fehlenden als erhaltenen Teilen. " Einmal mehr bestätigt sich das Thema des eindrucksvollen Buches für Ingo Schneider. "Es wäre ja schade, wenn alles geklärt wäre."