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D. Drascek, H. Groschwitz, G. Wolf: Kulturerbe als kulturelle Praxis - Kulturerbe in der Beratungspraxis#

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Daniel Drascek, Helmut Groschwitz, Gabriele Wolf (Hg.):Kulturerbe als kulturelle Praxis - Kulturerbe in der Beratungspraxis. Bayerische Schriften zur Volkskunde, Band 12. Bayerische Akademie der Wissenschaften München. 288 S., ill., € 19,90

Kulturerbe hat … Konjunktur. … Konventionen der UNESCO, EU-Programme zum europäischen Kulturerbe oder Institutionen des Denkmalschutzes markieren das große … Interesse an der zeitgenössischen Aneignung von tradiertem Kulturerbe. Seit dem Beitritt Luxemburgs (2006), der Schweiz (2008), Österreichs (2009) und Deutschlands (2013) zum 2003 verabschiedeten "UNESCO Übereinkommen zur Erhaltung des immateriellen Kulturerbes" verstärkt sich diese Entwicklung auch in den deutschsprachigen Ländern …" . Gute Gründe für eine interdisziplinäre Tagung der Bayerischen Akademie der Wissenschaften 2019 in München, an der rund 60 ExpertInnen teilnahmen. Jetzt ist der - aktualisierte -Tagungsband erschienen, der den wichtigen Diskurs zum immateriellen Kulturerbe unterstützen und den Blick für die mit dem Kulturerbe verbundenen Prozesse in ihrer Vielschichtigkeit und ihrer gesellschaftlichen Relevanz schärfen möchte, schreibt das Herausgeberteam im Vorwort. Daniel Drascek, Univ. Prof. in Regensburg, ist Vorsitzender des Expertengremiums immaterielles Kulturerbe Bayern, die Forschungsschwerpunkte von Dr. Helmut Groschwitz sind Kulturerbe, Museumstheorie und -praxis, Erzählforschung und Wissenschaftsgeschichte, Dr. Gabriele Wolf redigiert als Geschäftsführerin das Bayerische Jahrbuch für Volkskunde und ist Mitglied des Expertengremiums.

In ihrer Publikation haben sie 13 Tagungsbeiträge in drei Gruppen gegliedert: Beratung und Verfahren, Identitäten und Kulturpolitik. Daniel Drascek beginnt mit einem weltweit bekannten, österreichischen Beispiel, dem Lied "Stille Nacht, heilige Nacht" : Am Heiligen Abend, so die Vermutung, wird das Lied Jahr für Jahr von "2,4 Milliarden Menschen" in "weit mehr als 200 Sprachen" gesungen. In Österreich gehört diese kulturelle Praxis seit 2011 zum nationalen immateriellen Kulturerbe im Sinne des UNESCO-Übereinkommens … Wer auch immer auf der Welt in den letzten Jahren gesungen haben mag, den meisten dürfte nicht bewusst gewesen sein, dass sie auf diese Weise aktiv an einem in Österreich gelisteten immateriellen Kulturerbe partizipiert haben. Für den Autor zeigt dies, dass nicht leicht zu entscheiden ist, wann es sich um ein immaterielles Kulturerbe handelt. Immer wieder drehen sich Kontroversen um die Kernfrage, wie sich das Übereinkommen "richtig" auslegen und sinnvoll in die Praxis umsetzen lässt. Vielerorts bewirkt die Kulturerbe-Etikettierung eine ökonomische und touristische Inwertsetzung und stellt ein symbolisches Kapital dar. Helmut Groschwitz weist darauf hin, dass es bei den Verfahren zur Bewerbung für die Verzeichnisse um komplexe Prozesse mit einer Vielzahl von AkteurInnen geht, wobei das, was immaterielles Kulturerbe ist, erst verhandelt werden muss. Derzeit gibt es 181 Vertragsstaaten, die unterschiedlich vorgehen. Dabei erweist sich "Wissen, Können, Weitergeben" als verbindendes Element.

In Österreich begann die National-Agentur für das immaterielle Kulturerbe 2009 ihre Arbeit auf. Bisher wurden 157 Elemente aufgenommen. Sie umfassen die fünf Bereiche "Mündlich überlieferte Traditionen und Ausdrucksformen, einschließlich der Sprache", "Darstellende Künste", "Gesellschaftliche Praktiken, Rituale und Feste", "Wissen und Praktiken in Bezug auf die Natur und das Universum" sowie "Traditionelle Handwerkstechniken". Sieben Kriterien sind zu erfüllen, darunter die Weitergabe "von Generation zu Generation" und die Bereitschaft zur Weiterentwicklung. Der Beitrag stammt von der wissenschaftlichen Beirätin der Österreichischen UNESCO-Kommission, Ulrike Kammerhofer. Als langjährige Leiterin des Salzburger Landesinstituts für Volkskunde hatte sie einerseits mit der "wissenschaftlichen Volkskunde" zu tun, die sich im Lauf ihrer Fachgeschichte immer mehr von unwissenschaftlichen Vorbewertungen und gesellschaftspolitischen Lenkungen entfernte, andererseits mit der "Heimat- und Brauchtumspflege". Letztere vertrat noch in den 1960er Jahren unüberprüfbare Postulate, wobei Salzburg weithin als Vorbild galt. Zweifelhafte Nachhaltigkeit entwickelten hier die Ideologien von Kuno Brandauer (1895-1984), Tobi Reiser sen. (1907-1974) und Univ. Prof. Richard Wolfram (1902-1995), die alle vor, während und nach der NS-Zeit in der "angewandten Volkskunde" aktiv waren. Somit agieren bis heute viele Laien ebenso wie Presse und Politik mit einem Wissen, das nicht mehr gültig ist.

Einen erfrischend persönlichen Beitrag zum Buch liefern Anna Lahrl und Manuela Rathmayer, die an der Universität Innsbruck Europäische Ethnologie studiert haben. Im Rahmen eines Projektes über Tiroler Trachtenpraxis besuchten sie das Gauder. Es bezeichnet sich als "größtes Trachtenfest Österreichs" und steht seit 2014 auf der UNESCO-Liste. Der Text basiert auf den Feldforschungsnotizen ihrer teilnehmenden Beobachtung 2018 die auch die Irritationen der Forscherinnen nicht verschweigen. Das Gauderfest präsentiert sich zweifelsohne medial sowie mit Blick auf die mit dem Fest assoziierten Praktiken als eine "volkskulturelle" Veranstaltung. Das Tragen von Tracht, das Essen von regional betitelten Speisen, das Trinken des Gauderbock-Biers usw. korrespondieren mit den Vorstellungen über das Fest, die mit den Prädikaten "authentisch" und "volkskulturell" verknüpft werden. Sie finden sich auch in der vom Landestrachtenverband Tirol eingereichten Bewerbung für die UNESCO-Kommission. Die Gutachten zeichnen (durchaus nachvollziehbarerweise) ein idealisiertes Bild der Veranstaltung, die von den Ethnologinnen als mediale Inszenierung und volkskultureller Themenpark erlebt wurde. Zwei Zitate blieben ihnen im Gedächtnis: Der Aufdruck "Ich bin nur zum Saufen da" auf dem T-Shirt eines jungen Mannes in Lederhose und der begeisterte Ausruf einer alten Dame: "Schau, wie schön sie wehen, die Trachten im Wind" beim abschließenden großen Trachtenumzug durch den Ort, der erst seit den 2000er Jahren stattfindet. Die "Vertrachtung" der Veranstaltung kann des Weiteren auch als symptomatisch für ein wieder erstarkendes Interesse an wirkmäßigen Konstrukten wie "Tradition" und "Volkskultur" gelesen werden. … Auch der Wunsch, Bräuche und Feste wie das Gauder als immaterielles Kulturerbe zu zertifizieren, lässt sich als Ausdruck dieses Bedürfnisses nach "Volkskultur" lesen.

Im dritten Teil wird die Kulturpolitik zum Thema. Hier schildert Univ. Prof. Manfred Seifert, Marburg, die Entwicklungsgeschichte des UNESCO-Übereinkommens. Er sieht den Dualismus zwischen immaterieller und materieller Kultur, auf dem die Konvention beruht, als überholt und paradox an. Das Engagement für das immaterielle Kulturerbe ging in den 1950er Jahren von Japan aus. Es vergingen fast 40 Jahre bis zur "Empfehlung", traditionelles Wissen und mündliche Überlieferungen mithilfe rechtlicher Mittel unter Schutz zu stellen. Unter dem japanischen Diplomaten Koichiro Matsuura als UNESCO-Generaldirektor intensivierten sich die Bestrebungen zur Konvention, die 2006 in Kraft trat. In den letzten Jahren werden immer häufiger die Begriffe "Heritagefication" und "Heritagization" im Zusammenhang mit immateriellem Kulturerbe verwendet. Sie umschreiben den Prozess des "Kulturerbemachens", das sich in jüngster Zeit mehr und mehr zu einem wahren Heritage-Boom ausgewachsen hat, stellt Manfred Seifert fest. Der Schweizer Kulturwissenschaftler Stefan Koslowski stellt die Frage Immaterielles Kulturerbe - ein Unding? Das Übereinkommen vereint unterschiedliche Vorstellungen von Kultur … Es speist sich teilweise aus überholten kulturwissenschaftlichen Wissensbeständen, während Phänomene aktueller Gesellschaften nicht wahrgenommen scheinen. So wohnen in Österreich 60 %, in der Schweiz 73 % in urbanem Kontext. Doch die Konvention aktiviert gesellschaftliches Engagement und begrüßt ausdrücklich kulturelle Teilhabe und Mitgestaltung von möglichst vielen Menschen. So bedeutet immaterielles Kulturerbe also Teilen, Teilhabe, Teilnehmen, Teil werden und Teil sein.

hmw