Wir freuen uns über jede Rückmeldung. Ihre Botschaft geht vollkommen anonym nur an das Administrator Team. Danke fürs Mitmachen, das zur Verbesserung des Systems oder der Inhalte beitragen kann. ACHTUNG: Wir können an Sie nur eine Antwort senden, wenn Sie ihre Mail Adresse mitschicken, die wir sonst nicht kennen!

unbekannter Gast

Ingrid Erb: Venedig in Wien #

Bild 'Erb'

Ingrid Erb: Venedig in Wien. Die Inszenierung des Ephemeren als Spielfeld der Moderne. Böhlau Verlag Wien Köln.. 216 S., ill., € 55,-

Venedig in Wien war weltweit einer der ersten großen öffentlichen Themenparks. 1895 in nur wenigen Wochen errichtet, zählte die Vergnügungsstadt täglich bis zu 20.000 Besucher. Abseits jeder Nostalgie kann man die Faszination des Gesamtkunstwerks im Buch von Ingrid Erb nachvollziehen. Die Autorin studierte Kunstgeschichte und Architektur in Basel, wo sie Auszeichnungen erwarb. Seit einem Jahrzehnt lebt sie als international gefragte Bühnen- und Kostümbildnerin in Wien. 2016 schloss Ingrid Erb das Doktoratsstudium an der Fakultät für Architektur und Raumplanung der TU Wien ab. Venedig in Wien war ihr Dissertationsthema. Die faktenreiche, vielseitige und ins Philosophische gehende Zugangsweise im ersten Teil ist dieser Annäherung geschuldet. Sie eröffnet völlig neue Perspektiven.

Ephemer ist das griechische Wort für etwas, was einen Tag dauert. Das Präfix "epi" umfasst die Bedeutungen "darauf, darüber, hinzu, gegen, nach, bei, an, bis zu. … "Hemära " heißt "Tag", aber auch "Zeit" und allgemein "Leben". … Ephemer kann ein punktuelles Ereignis sein, das nur genau an einem einzigen Tag stattfindet. …Vorübergehendes, das an einem Tag zerrinnt, oder etwas, das seine Wirkung an einem einzigen Tag entfaltet und so durchaus auch eine andauernde Wirkung zeigen kann. Darunter fallen u. a. die "fliegenden Bauten" historischer Festarchitektur, Ausstellungsgebäude, Lichtspektakel oder künstliche Paradiese wie Gärten und Themenparks.

Schauplatz der ephemeren Inszenierung Venedig in Wien war der - nächst dem Wurstelprater gelegene - Kaisergarten oder Englische Garten im Prater. Der Prater war im 16. Jahrhundert kaiserliches Jagdgebiet, im 17. Jahrhundert für Privilegierte zugänglich, ehe ihn Joseph II. 1766 zur allgemeinen Benützung freigab. Der Wurstelprater mit Gastlokalen und Vergnügungsstätten entwickelte sich zum Freizeitareal der Bevölkerung. Nur ein kleiner Teil, der Kaisergarten, blieb vorerst privat. Nach dem Tod des russischen Botschafters Fürst Dimitri Gallitzin (1721-1793), der diesen gekauft und als ersten englischen Landschaftsgarten Wiens umgestaltet hatte, ging das Grundstück an den Hof zurück. Neuer Besitzer war die englische Gesellschaft "The Vienna Kaisergarten", die verschiedene Etablissements eröffnete, doch der Konkurrenz des Wurstelpraters nicht standhalten konnte. 1894 pachtete Gabor Steiner das Areal für zehn Jahre.

Gabor Steiner (1858, Temesvar - 1944, Hollywood) entstammte einer Familie von Theaterleuten. Vater und Bruder waren Direktoren des Theaters an der Wien, auch er leitete verschiedene Bühnen. 1895 ließ Gabor Steiner nach Plänen des Architekten Oskar Marmorek (1863-1909) Venedig in Wien errichten. In einem Führer durch die Ausstellung schrieb er, die neue Sehenswürdigkeit wolle "eine Vereinigung von Schönem und Nützlichem" bieten. Und so ist Venedig in Wien ein Kunstwerk geworden, aber auch eine Industriestätte, eine Ausstellung und ein Vergnügungsort, ein Stadtportrait und ein Landschaftsbild, eine Vermählung von Altem und Neuem, von venezianischem Geiste und wienerischer Lebensfreude. Hier konnten die Besucher die Lagunen in Gondeln passieren. 25 Stück wurden in Venedig bestellt und 40 Gondoliere angeworben, ihre "schmucke Tracht" kam aus der Hofoper.

Die Palazzi waren mit bemalter Leinwand überzogene Holzkonstruktionen. Hoftheatermaler gestalteten die Fassaden. Brüstungen schützten die Gäste vor dem Absturz in die Kanäle. Es wurden keine echten Ensembles verkleinert nachgebaut, weil dies, so der Architekt, nur kleinlich wirken würde. … Die Markuskirche lässt sich nicht kopieren. Es ging ihm um den Charakter, die Stimmung der "Königin der Meere". Das Ganze war, schreibt Ingrid Erb, Mehr Interpretation als Imitation. Sie nennt Marmoreks Ausstellungsbauten "dreidimensionale begehbare Bilder". In der Architektur wagte er früh den Schritt vom Historismus zum Jugendstil. Nach anfänglichen Schwierigkeiten mit der Baugenehmigung konnte die "Zauberstadt" im Mai 1895 eröffnet werden. Von dem 50.000 m² großen Areal wurden 5.000 m² mit 167 Häusern verbaut, die alle begehbar waren. Sie verfügten über elektrische Beleuchtung, Gasheizung, Wasserzuleitung und Kanalisation, umfassten Nebenräume und waren eingerichtet. Darin befanden sich Restaurants, Ausstellungsräume, Werkstätten und Geschäfte in einer klugen Verkaufsstrategie des Eventshopping. Es entstanden elf Brücken, drei große Plätze und Kanäle im Ausmaß von einem Kilometer. Venedig in Wien war technisch auf dem letzten Stand. In dem wetterfesten "begehbaren Bühnenbild" spielten Innovationen eine große Rolle. Das Kinematographentheater erwies sich, wegen der schlechten Bildqualität, als Flop, umso erfolgreicher war die elektrische Beleuchtung. Durch die Lichtgestaltung wurde der Raum dramatisiert, schreibt Ingrid Erb.

Der Themenpark war täglich von 10 bis 22 Uhr geöffnet. Zu billigen Eintrittspreisen (30 Kreuzer - ca. 5 €) und mit immer neuen Attraktionen machte er dem Wurstelprater ernsthaft Konkurrenz. In der ersten Saison kamen zwei Millionen Besucher. Venedig in Wien war als Provisorium konzipiert. Gabor Steiner sorgte ständig für neue Attraktionen. 1897 ließ er das 63 m hohe Riesenrad errichten. Sommertheater und Wasserrutschbahn ersetzten nach und nach Palazzi und Kanäle. Die Kosten für den Betrieb waren enorm und führten 1908 zum Konkurs.

Venedig in Wien stand für eine Moderne der Vielfalt, für eine Verbindung von Orten, Zeiten und Künsten, für ein Zusammenwirken der Sinne, für eine neue Welt des Konsums, der Werbung und der Massenunterhaltung … für eine neue Ordnung der Gesellschaft. … Venedig in Wien war ein Spielfeld der Moderne, fasst die Autorin zusammen.