Bernhard Hachleitner, Michael Hieslmair, Michael Zinganel: Blinder Fleck#
Bernhard Hachleitner, Michael Hieslmair, Michael Zinganel: Blinder Fleck. Nordwestbahnhof. Biografie eines innenstadtnahen Bahnhofsareals. Falter Verlag Wien. 214 S., ill., € 29,90
Das Nordbahnviertel ist als Wiens größtes innerstädtisches Entwicklungsgebiet in aller Munde. Bis 2026 sollen auf dem 85 ha großen, ehemaligen Bahnhofsareal 5500 Wohnungen für 25.000 Personen und 50.000 m² Gewerbeflächen entstehen. Der unweit davon gelegene frühere Nordwestbahnhof ist hingegen ein Blinder Fleck. Ihn sichtbar zu machen, haben sich die Architekten Michael Hieslmair und Michael Zinganel zum Ziel gesetzt. Seit 2015 betreiben sie auf dem Areal einen Projektraum, der 2020 zum Museum Nordwestbahnhof geworden ist. Gemeinsam mit dem Historiker Bernhard Hachleitner haben sie ein überaus interessantes Buch zur Dokumentation herausgebracht.
Der Nordwestbahnhof nahm 1872 als letzter der zehn Wiener Kopfbahnhöfe den Betrieb auf. Die Bahnlinien wurden von verschiedenen Gesellschaften betrieben (die Nordbahn z. B. von Rothschild), die aus Imagegründen Interesse an repräsentativen Stationsbauten hatten. Kunsthistoriker sprechen auch von den "Stadttoren des 19. Jahrhunderts". Die Nordwestbahn sollte die nordböhmischen Industrieregionen - Kohlegruben und Zuckerfabriken - mit Wien sowie Wien mit Berlin und den Nordseehäfen verbinden. Die 125 Meter lange, 39 Meter breite Abfahrtshalle entsprach dem modernsten Stand der Technik. Sie überspannte fünf Gleise ohne Zwischenstützen. An die Halle schloss sich ein prunkvoller Kassensaal an. Zwischen den, nach drei Klassen getrennten, Wartezonen befand sich ein Restaurant mit einem bepflanzten Gastgarten. Das Gebäude war elegant ausgestattet, besonders der Salon 1. Klasse und der Hofsalon auf der Ankunftsseite. Die allegorischen Figuren für die mit der Nordwestbahn erreichbaren Städte - Dresden, Leipzig, Breslau, Hamburg und Bremen - an der Abfahrtsseite des Gebäudes stammten von Franz Melnitzky.
Das repräsentative Personengebäude gegenüber dem Augarten bestimmte zwar das öffentliche Bild des Nordwestbahnhofs, der weitaus größere Teil der Fläche des zwischen Augarten und Donau liegenden Bahnhofsgeländes diente allerdings dem Güterverkehr, der zudem umsatzstärker als der Personenverkehr war, betonen die Autoren. Zur Zeit der Donaumonarchie wies der Nordwestbahnhof eine höhere Passagierfrequenz als der prominentere Nordbahnhof auf. Dieser war der weitaus wichtigere Fernbahnhof, während beim Nordwestbahnhof der Lokalverkehr größeres Gewicht hatte. Auf der Rückreise von einer Wahlkundgebung in Stockerau wurde der prominente sozialdemokratische Reichsratsabgeordnete Franz Schuhmeier 1913 hier ermordet.
1924 verließ der (vorerst) letzte Personenzug den Nordwestbahnhof. Er verschwand aus dem Alltagsleben der Stadt. Die Räumlichkeiten dienten als Büros und Wohnungen. Zu den Zwischennutzungen der riesigen Bahnhofshalle zählte das Projekt "Schneepalast" eines norwegischen Skispringers. Er ließ eine Holzrampe mit Skipiste, Rodelbahn und Sprungschanze in die Halle bauen. Statt auf Schnee fuhren die WintersportlerInnen auf einer Mischung aus Soda und verschiedenen Chemikalien zu Tal. 150 Tonnen wurden von einer Chemiefabrik in Moosbierbaum (Niederösterreich) mit Zügen zum Nordwestbahnhof gebracht - praktischerweise hatte die Skihalle Bahnanschluss. 1927 kam es erneut zu einem Attentat, diesmal auf Karl Seitz, doch traf der Pistolenschütze den Wiener Bürgermeister nicht. 1928 musste der Schneepalast den Ausgleich anmelden. Es gab viele Projekte, aber keines wurde realisiert: Busbahnhof, Flugzeuglandeplatz, zentraler Obst- und Gemüsemarkt, Velodrom, Tennisstadion. Die Halle diente hingegen für Filmaufnahmen ("Die Stadt ohne Juden", 1924) und politische Veranstaltungen. Über die Zwischennutzungen der Zwischenkriegszeit, zu denen auch die NS-Propagandaausstellung "Der ewige Jude" von 1938 zählte, führt der Bogen zu "Arisierungen", Kriegsmaschinerie und Zwangsarbeit im Nationalsozialismus, zu sowjetischer Besatzung und Wiederaufbau, den Boom-Jahren während des Kalten Krieges bis hin zu seinem aktuellen schrittweisen Rückbau, erinnern die Autoren.
Seit 1959 ist der Personenverkehr endgültig eingestellt, doch konnte der Nordwestbahnhof seine Funktion für den Güterverkehr erhalten. Noch bis 2016 wurden Überseecontainer umgeschlagen. Erst in den allerletzten Jahren des Umbruchs, mit dem Herannahen des Ablaufdatums, öffnete sich das Areal langsam seiner Nachbarschaft. Ausgerechnet 2022, im Jubiläumsjahr seines 150-jährigen Bestandes, hat der Nordwestbahnhof seine endgültige Stilllegung erfahren und wird in naher Zukunft einem Stadtentwicklungsgebiet mit rund 15.000 neuen BewohnerInnen und etwa 5.000 Arbeitsplätzen weichen müssen.
Das Buch gliedert sich in vier chronologische Kapitel - 1872-1918, 1918-1938, 1938-1945, 1945-2022 - und vier Essays zu den Themen Fischerei und Donauregulierung, die Ausstellung "Der ewige Jude", der Großlogistiker Schenker & Co, sowie "Künstlerische Ausgrabungsarbeiten" im Museum Nordwestbahnhof, für das sich die Autoren engagieren. Das Buch versteht sich demnach als Erinnerungsarbeit zum Wiener Nordwestbahnhof und zu seinen wesentlichen Bedeutungen: einerseits als Knotenpunkt eines übergeordneten Transport-Netzwerkes und dessen Wechselwirkungen mit der Stadt – und andererseits als Mikrokosmos sich wandelnder Arbeits- und Lebensräume.