Martin Haltrich (Hg.): Medialitäten von Heiligkeit#
Martin Haltrich (Hg.): Medialitäten von Heiligkeit. Jahrbuch des Stiftes Klosterneuburg, NF Bd. 24. Böhlau Verlag Wien - Köln. 228 S., ill., € 40,-
Die wissenschaftliche Beschäftigung mit der (eigenen) Geschichte zählt seit dem 12. Jahrhundert zu den Aufgaben der Klöster. In Klosterneuburg gab es seit 1908 ein Publikationsorgan für die Forschungen der Augustiner-Chorherren. 1961 begann der verdiente langjährige Archivar Floridus Röhrig mit der Herausgabe der "Neuen Folge". Deren 24. Band - "Medialitäten von Heiligkeit" - liegt jetzt vor. Er basiert zum Teil auf Dissertationen eines Doc-Team-Stipendiums der Österreichischen Akademie der Wissenschaften. Im Zentrum stehen die Kanonisation des Stiftsgründers, des Babenberger Markgrafen Leopold III. (1073-1136), die damit verbundenen Narrative sowie die mediale Aufbereitung des neuen Heiligen als Grundlage seiner künftigen Verehrung.
Julia Anna Schön von der Stiftsbibliothek hat das Verfahren der 1485 erfolgten Heiligsprechung Leopolds untersucht. Sie analysierte die Aussagen von mehr als 400 ZeugInnen, die man zwischen 1468 und 1473 befragt hatte. In solchen Prozessen spielen Wunder eine große Rolle. Für Leopold sind keine überliefert, die er bei Lebzeiten gewirkt haben soll. Drei Jahrhunderte danach konnten die Zeugen nur posthume Wunder zu Protokoll geben. Die meisten der 283, nämlich 269, bezogen sich auf Heilungen. Befragt wurden 191 Männer und 286 Frauen, überwiegend der Altersgruppe 21 bis 40 Jahre. Sie kamen aus fünf Diözesen, der Großteil aus Klosterneuburg und Wien. Die Autorin fasst zusammen: " Es handelte sich bei Leopolds Kult vorrangig um einen regional eingeschränkten Kult, der vor allem im unmittelbaren Umland von Klosterneuburg von Bedeutung war … beziehungsweise in Gegenden und Gebieten mit gewissen ökonomischen und/oder seelsorgerischen Verbindungen zum Stift Klosterneuburg."
Der Herausgeber Martin Haltrich schreibt im Vorwort: "Die zentrale Erzählung zum heiligen Leopold ist nicht - wie zu vermuten wäre - eine Lebensbeschreibung des Markgrafen, sondern die Babenberger Genealogie des Ladislaus Sunthaym. … Der von den Klosterneuburger Chorherren engagierte Historiker Sunthaym erstellte keine Biographie von Einzelpersonen sondern die Genealogie einer vergangenen Dynastie rund um den Heiligen, auf die sich die Habsburger stützen konnten. Er konnte damit eine Art Familienheiliger der aufstrebenden Dynastie werden." Edith Kapeller von der Stiftsbibliothek betitelt ihren diesbezüglichen Beitrag "Frauen und Töchter zuerst!" Die 75 von Sunthaym präsentierten Personen werden in einer für genealogische Darstellungen dieser Zeit (1491) ungewöhnlichen Art vorgestellt, nämlich mit den Frauen beginnend. Diese Form wurde im zugehörigen Gemälde, dem Babenberger-Stammbaum, und Handschriften der Frühen Neuzeit übernommen.
Andrea Worm vom kunsthistorischen Institut der Universität Tübingen erforschte die Bedeutung des "Siebenarmigen Leuchters" als Erinnerungsort der Stiftsgründung und Reliquiar. Der im 12. Jahrhundert gegossene (wahrscheinlich einst vergoldete) Bronzeleuchter zählt zu den frühesten, größten und künstlerisch bedeutendsten seiner Art. Rund vier Meter hoch, steht er im Brunnenhaus des Kreuzgangs, doch wurde er im Lauf seiner langen Geschichte umgearbeitet und wechselte mehrfach den Standort. Als Lichtspender zählte er wohl zur ursprünglichen Ausstattung der 1136 geweihten Klosterkirche. Spätere Generationen brachten ihn mit dem Hollerstrauch der Gründungslegende in Zusammenhang, die nicht vor dem 14. Jahrhundert nachzuweisen ist. Im 15. Jahrhundert - vermutlich nach der Heiligsprechung Leopolds - kommt ein Holunderstrauch ins Spiel. Erst 1585 ist in einer Predigt vom Leuchter als Behältnis des Holunderstrauches die Rede. "Wie freilich das Holz in den Stamm des Leuchters hineinkam, bleibt letztlich eine offene Frage. Zur Stabilisierung hätte er jedenfalls kaum getaugt. Wahrscheinlich ist, dass man im ausgehenden 16. Jahrhundert der Evidenz des Wunders nachhalf, indem man Holzstücke von einem Holunderstrauch in den hohl gegossenen Stamm einführte." Damit wurde der Leuchter zum bildhaften Reliquienträger.
Sabine Miesgang vom Institut für Mittelalterforschung beschäftigte sich mit "Stiftung und Inszenierung des österreichischen Erzherzogshuts". Sie bearbeitete die politisch-dynastische Bedeutung des 1616 von Erzherzog Maximilian III. gestifteten Erzherzogshuts. In der damit verbundenen Verehrung Leopolds wird die komplexe Verwobenheit von Religion und Politik in der Frühen Neuzeit deutlich.
Werner Telesko, Beiratsmitglied des Doc-Teams, schrieb über "Heiligkeit in den Bildmedien der Frühen Neuzeit". Seine Analyse ist, "dass die Propagierung von Sanctitas in frühneuzeitlichen Bild- und Textmedien vor allem im Sinn einer rational verfassten Kategorie zu betrachten ist. Das Auftreten und die Strahlkraft einer herausragenden Persönlichkeit sollten weniger durch eine Verabsolutierung ihrer vermeintlich oder real einzigartigen Eigenschaften begründet, sondern hauptsächlich aus Vergleichsmaßstäben unterschiedlicher Art generiert werden." Beispiele sind der Gründer des Jesuitenordens, Ignatius von Loyola, und Johannes Nepomuk, "die Inkarnation des Barockheiligen schlechthin". Beide Legenden sind reich an biblischen Anspielungen. "Hinter einer Textsammlung wie einem Legendar stehen eine Vielzahl von Anliegen", weiß Karl Brunner vom Institut für österreichische Geschichtsforschung. Sein Beitrag behandelt Einträge des Magnum Legendarium Austriacum (MLA), über die Salzburger Bischöfe Virgil, Eberhard und Hartwig. Das MLA, die größte hagiographische Sammlung in Europa um 1200, umfasst mehr als 530 lateinische Texte über das Leben von MärtyrerInnen und BekennerInnen. Sie folgen einem komplexen Netz an Interessen, wie dem Prestige geistlicher Gemeinschaften und Einzelpersonen, wirtschaftlichen Gründen oder dem Aufbau lokaler Heiliger. Schriften wie das MLA wurden ott als Propagandaschriften bezeichnetet. Sie wandten sich an zwei Zielgruppen: "die Öffentlichkeit, zuerst vertreten durch Frauen, und die Geistlichkeit, unter denen sich wohl auch in der Realität Zweifler befanden. Aufbau eines Heiligenkultes stieß offenbar auf Widerstand."
Mit dem 24. Band erhielten die Jahrbücher des Stiftes Klosterneuburg eine aktuelle Struktur: Der erste Teil behandelt das Schwerpunktthema, der zweite Mitteilungen zu Quellenfunden und Werkstattberichte, der dritte berichtet über aktuelle Forschungsprojekte. Ab jetzt erscheinen die Jahrbücher im Verlag Böhlau, der sie kostenfrei als open access zugänglich macht. An der Freistellung sämtlicher Jahrbücher wird gearbeitet. Sie sollen ab heuer auf den Webseiten des Stiftes zu finden sein. Der 25. Band wird sich 2024 mit musikalischen Quellen und Musikforschungen in klösterlichen Bibliotheken und Archiven befassen.