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Ludwig-Uhland-Institut (Hg.): Kultur ist#

Bild 'Kultur ist'

Ludwig-Uhland-Institut (Hg.): Kultur ist. Beiträge der Empirischen Kulturwissenschaft in Tübingen, Band 128. ekw-Verlag Tübingen. 216 S., ill., € 20,-

Es war einmal eine "Volkskunde". Die Vorgängerin der Kulturwissenschaft beschrieb und bewahrte das vorindustrielle Fest- und Alltagsleben, vorwiegend der ländlichen Regionen. 1858 bezeichnete der Museumsdirektor Wilhelm Heinrich Riehl (1823-1897) erstmals "Volkskunde als Wissenschaft". Das ist lange her. Nach der Vereinnahmung in der NS-Zeit sollte nicht mehr von Volkskunde gesprochen werden, doch ist der belastete, griffige Name nach wie vor populär. Jede/r meint zu wissen, was damit gemeint ist. In Abgrenzung dazu wurde die Wissenschaft zum Vielnamenfach: Europäische Ethnologie, Kulturanthropologie und - bereits seit einem halben Jahrhundert - Empirische Kulturwissenschaft (EKW).

Kürzlich hat sich der Österreichische Fachverband für Volkskunde nach einem langem Diskussionsprozess in "Österreichische Gesellschaft für Empirische Kulturwissenschaft und Volkskunde (ÖGEKW)" umbenannt. Die Deutsche Gesellschaft und die Tübinger Vereinigung für Volkskunde entschieden sich schon früher für die etwas sperrige Bezeichnung. Ausgangspunkt der Umbenennungsfrage war 1971 das Ludwig-Uhland-Institut (LUI) an der dortigen Universität, und ihr Professor Hermann Bausinger (1926-2021) der Protagonist. Das Jubiläum bot Anlass zu Veranstaltungen und Publikationen, wie des Lesebuches Kultur ist. Darin sondieren acht AutorInnen, fast alle ProfessorInnen am LUI, was "Kultur" als Forschungsperspektive und Gegenstand für sie bedeutet. Ihr Ziel ist es, allen an (Alltags-)Kultur Interessierten nahezubringen, warum es sich lohnt, die Welt mit und durch Kultur zu sehen, zu beschreiben und zu analysieren.

Sie stellen die Frage Was ist Kultur? und versuchen, den Kulturbegriff der EKW einzugrenzen. Der Kulturbegriff der EKW ist in jedem Fall nicht "eng", sondern "weit", er ist nicht "statisch", sondern "prozesshaft" und keinesfalls bezieht er sich auf "Hochkultur", sondern er meint "Alltagskultur". Letzteres wird am LUI auch als Unterschied zwischen "Kultur mit großem K" (Hochkultur) und "kultur mit kleinem k" (Alltagskultur) benannt. … Nicht umsonst wechselten sich die Konjunkturen des Kulturbegriffs mit seinen Krisen ab. … Aber "Kultur" verschwand doch nie ganz und gewann schließlich wieder zunehmend an Attraktivität, schreibt Christoph Bareither. Gemeinsam sei allen Definitionsversuchen, Kultur im menschlichen Zusammenleben zu verorten.

Monique Scheer beginnt ihren Beitrag Kultur ist das Gemeinsame mit der Wiedervereinigung Deutschlands in den 1990er Jahren, der Einführung des Euro am Beginn und der Willkommenskultur Mitte des ersten Jahrzehnts des 21. Jahrhunderts. Sie nennt Gefühle, Wertekonsens und Sakralisierung als "Kitt" des Gemeinsamen. Thomas Thiermeyer referiert über Die Kultur der Wissenschaft. In Göttingen nennt sich das Universitätsmuseum "Forum Wissen". Es stellt die Kultur der Wissenschaft als Prozess des Wissensschaffens in Forschung und Lehre für die breite Öffentlichkeit dar.

Helen Ahner widmet sich der Technik als produktives Rätsel der Empirischen Kulturwissenschaft. Dabei zeigt sich: Kultur ist Technik und Technik ist Kultur. Ein Beispiel sind die Planetarien. Die erste öffentliche Vorführung fand 1923 in Leipzig statt. 1925 erhielt der Neubau des Deutschen Museums in München einen Projektor. Wien folgte schon zwei Jahre später. Ahner zitiert eine längere Passage aus der Wiener "Kleinen Volkszeitung" mit Visionen einer Mondlandung - 42 Jahre vor deren Gelingen.

Hubert Klausmann berichtet über das Projekt Sprachalltag der Arbeitsstelle "Sprache in Südwestdeutschland", die er leitet. Seit 1955 umfasst das Archiv 2000 Tonaufzeichnungen aus Deutschland, Österreich und der Schweiz. Bei Befragungen zum Thema "Dialekt und Standardsprache" waren 70 Prozent der Meinung, dass in Norddeutschland das beste Hochdeutsch gesprochen würde. Dies führe zu einer klaren Abwertung der regionalen Varietäten, besonders im süddeutschen Raum. (Das dürfte auch für Österreich gelten.) Viele Menschen mit süddeutscher Sprechweise seien sogar bereit, ihren Dialekt zugunsten der norddeutschen Standardsprache abzulegen, um der sozialen Benachteiligung zu entkommen. Karin Bürkert und Mirjam Nast stellen in ihrem Beitrag Überlegungen zu einer auditiven historischen Ethnographie an. Unter anderem haben sie ein Zeitdokument analysiert, die Detmolder Tagung von 1969. Dort kulminierte der Konflikt um eine methodisch -theoretische Neuausrichtung der Volkskunde. Wolfgang Sannwald beweist Kultur ist relevant und gestaltbar. Am Beispiel von Public Engeneering im Landkreis Tübingen stellt er die Projekte "Heimatgeschichte der NS" und "tünews international" (im Integrationsdiskurs) vor.

Der österreichische Kulturwissenschaftler Reinhard Johler, war in Wien als Universitätsassistent und Assistenzprofessor am Institut für Europäische Ethnologie tätig, ehe er dem Ruf nach Tübingen folgte. Seine Abhandlung Ein Tübinger EKW-Blick auf Istrien und die Habsburgermonarchie (und dann wieder zurück) trägt den Titel Kultur ist hybrid. Als Leiter einer internationalen und interdisziplinären Arbeitsgruppe erforschte er die Hybridität der multikulturellen Halbinsel Istrien. Sie galt gegen Ende der Habsburgermonarchie als "Laboratorium für ethnische und kulturelle Vielfalt". Dabei geht der Autor auf die Anthropologische Gesellschaft in Wien ein. Die Eröffnungsrede hielt 1870 ihr Präsident, der Mediziner Carl von Rokitansky. Er verlangte von der neuen Wissenschaft der Anthropologie eine "neutrale, unvoreingenommene Gesinnung" Die "Vermischung der Racen" sah er positiv. Istrien war ein Musterbeispiel dafür. Forscher stellten "13 ethnographische Nuancen" fest. Für die EKW ist Hybridität ein "charakteristisches Merkmal moderner Lebensformen." Daher lohne es sich, diesem komplexen Begriff gerade jetzt wieder genauer nachzugehen.

Höhepunkt und Abschluss des Bandes bildet der Aufsatz Kultur ist mehr von Hermann Bausinger. Denn was nützt alle Kultur, die nicht mehr ist als "nur" Kultur? fragte der Gründer des LUI schon 1994. Der Text ist auch nach fast drei Jahrzehnten anregend, aktuell und prophetisch: Kultur darf nicht das Trostpflaster sein, das über die von der technischen und sozialen Entwicklungen geschlagenen Wunden geklebt wird. Hermann Bausinger ist am 24. November 2021 gestorben. Mit ihm verliert das Fach eine ihrer wichtigsten Stimmen. Das Lesebuch zum 50-jährigen Jubiläum des LUI ist ihm gewidmet.

hmw