Werner Reiss: Millenium#
Werner Reiss: Millenium. Das Evangelium und die Phrasen. Plattform-Verlag Perchtoldsdorf. 166 S., ill. € 18,-
Msgr. DDr. Werner Reiss ist Theologe, Jurist, Philosoph und Politologe. Seit mehr als einem Vierteljahrhundert betreut er als Rektor die Johannes-Nepomuk-Kapelle in der Nähe der Wiener Volksoper. Gläubige aus ganz Wien kommen dort hin, um seine Predigten zu hören. Außerdem wirkt er als Seelsorger in Wien-Breitenfeld und im Sommer in St. Johann bei Herberstein, Steiermark. Der Priester ist ein produktiver Autor. Allein in den letzten Jahren erschien im Plattform-Verlag eine Reihe anspruchsvoller Bücher. 2023 geht es um Das Evangelium und die Phrasen. Der Verfasser erläutert: Was mich steuert, ist sicher die christliche Tradition, die ich auch versuche, zu vermitteln. Ich predige schon sehr lange, viele Jahre meines Lebens. Predigen heißt, eine Botschaft so zu vermitteln, dass sie beim Empfänger ankommt. … Das wollte ich zunächst tun, einen Überblick über die vielen Reden zu verschaffen, die ich bisher gehalten habe, für mich, vielleicht auch für andere, die das interessieren könnte. Diesen Plan habe ich bald verworfen.
Der Autor entschied sich, 40 Schlagworte auf die vier Evangelien zu beziehen. Jede der je 10 Einheiten hat drei Teile: Berichte informiert über die Herkunft und Art des Textes, Bedenke gibt Auskunft über die Gedanken, die einem bei der Auseinandersetzung mit dem Text kommen, Beratung sieht die Predigt als Sonderfall der Beratung.
Der traditionellen Reihung folgend, beginnt das Buch mit Matthäus. Sein Evangelistensymbol ist der Mensch bzw. Engel. Das Matthäus-Evangelium ist charakterisiert durch die großen Reden, die Jesus hält. Hier beginnen die Verständnisschwierigkeiten. Jesus hat wohl keine dieser Reden so gehalten. Es sind Spruchsammlungen, die auf ihn zurückgehen, jede mit einer leitenden Vorstellung. Die bekannten Texte, die modernen Schlagworten gegenüber gestellt werden, sind hier u. a. die Seligpreisungen (Mt 5,1-11). Dazu der Begriff "Framing", der in der Marketingsprache "in einen Rahmen einpassen" bedeutet. Die Aufforderung zur Feindesliebe (Mt 5,44) steht in Verbindung mit Aggression, die Verklärungsgeschichte (Mt 17,1-9) mit einer Betrachtung über Euphorie und Glück.
Das Evangelium des Markus, - sein Symbol ist der Löwe - ist das älteste. Es entstand bald nach dem Jahr 70 im östlichen Mittelmeerraum. Trotzdem ist es der historischen Realität nicht am nächsten - wie Albert Schweitzer schon 1906 erkannte. Typisch für Markus ist das "Messiasgeheimnis". Jesus, der sich seinem engsten Kreis als Messias offenbart, verbietet den Jüngern, darüber zu reden. Es kommt der Verdacht auf, dass dieses wiederkehrende Motiv eine Konstruktion des Markus ist, um auf den Unterschied aufmerksam zu machen, dass der historische Jesus nicht messianisch aufgetreten ist bzw. als Messias verstanden werden konnte. Erst aufgrund der Ostererfahrung wurde er das. Werner Reiss bringt die Tauferzählung (Mk 1,4; 2,12) mit der Phrase "Selbstermächtigung" in Verbinddung. Das Gleichnis vom alten Wein in neuen Schläuchen (Mk. 2,22) erinnert ihn an aktuellen Aktionismus: Wenn sich wieder einmal Umwelt-Protestierer an Bäume ketten oder sich an Verkehrsflächen festkleben, entsteht ein Gewöhnungseffekt, manchmal ein Überbietungswunsch. Die Salbung in Bethanien (Mk 14,3-9) wurde von den Anwesenden als suboptimal empfunden - und diese deshalb von Jesus zurechtgewiesen. Suboptimal ist ein Euphemismus, d. h. ein Schönreden, um zu vermeiden, dass man eigentlich "schlecht" sagen möchte. Also eine Phrase.
Jedem Kapitel hat der Autor eine eigene Grafik mit dem Evangelistensymbol - bei Lukas der Stier - vorangestellt. Diese Frohbotschaft gehört zu den späteren Evangelien, die um 80-90 n. Chr. entstanden sind, sie vereint jüdische und hellenistische Traditionen. Lukas war auch der Verfasser der Apostelgeschichte. Sein bekanntester Text ist wohl das Weihnachtsevangelium. (Lk 2, 1-20). Werner Reiss nennt es ein Narrativ. Narrativ ist die große Erzählung, die dem einzelnen Halt gibt, um sich in Zeiten der Wandlung, auch der Krisen, immer wieder zu orientieren. Das rituelle Moment ist unübersehbar. Ist eine Erzählung überflüssig, erstarrt das Narrativ zur Phrase. Sprichwörtlich ist die Episode der Brotvermehrung (Lk 9,10-17). Hier wird sie in Zusammenhang gebracht mit "Community" (Verbindung von Menschen, die einiges gemeinsam haben). Ebenfalls ein geflügeltes Wort: Gebt dem Kaiser, was des Kaisers ist (Lk 20, 20-26). Die Aussage Jesu führt zu "Eliten und Experten". Bei diesen Schlagworten wird nicht gesagt, worin das Elitäre oder Expertenhafte besteht, es sind einfach Machthaber und ihre Helfer. Dieses Verschweigen auszeichnender Eigenschaften ist interessant.
Das Buch schließt mit dem Johannes-Evangelium, dem jüngsten. Es entstand um die Wende des 1. Jahrhunderts vermutlich im Grenzbereich Syrien-Kleinasien. Es wird nach einem Johannes benannt. Dieser wurde oft mit dem Lieblingsjünger oder dem Verfasser der Geheimen Offenbarung gleichgesetzt. Dafür gibt es keinen Beleg. … das Evangelium war immer das "Sorgenkind" der Exegese. Der Johannesprolog - "Im Anfang war das Wort" - wird mit dem Begriff Paradigmenwechsel in Verbindung gebracht, der Wechsel einer Sichtweise, der es erlaubt, mehrere Modelle der Wirklichkeitswahrnehmung in einer neuen Perspektive zu sehen. Dies ist mit einer neuen Einstellung verbunden.
Der aufmerksamen Leserschaft wird auch das Buch von Werner Reiss zu neuen Perspektiven verhelfen. Abschließend schreibt er über Passion (Joh 18, 32-38) und Freiheit: Die verschlossenen Türen öffnen sich wieder - überall dort, wo Menschen einander helfen, den Phrasen zu widerstehen, die uns einengen und eine scheinbare Sicherheit geben. Bescheidener Zusatz: Ich hoffe, dazu ein wenig beigetragen zu haben. Daran kann nach der Lektüre des "Millenium"-Buches kein Zweifel bestehen.