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Romedio Schmitz-Esser: Um 1500. Europa zur Zeit Albrecht Dürers#

Bild 'Dürer'

Romedio Schmitz-Esser: Um 1500. Europa zur Zeit Albrecht Dürers. wbg Theiss Verlag Darmstadt. 520 S., ill., € 44,-

Künstlerbiographien beschränken sich oft auf eine Persönlichkeit, Geschichtsbücher konzentrieren sich auf Herrscher und Jahreszahlen, die kulturwissenschaftliche Disziplin der Alltagskulturforschung ist relativ jung und hat meist die unteren Sozialschichten im Blick. Romedio Schmitz-Esser ist es in großartiger Weise gelungen, alle drei Aspekte zu verbinden. Auf mehr als 500 Seiten entwirft der Heidelberger Professor für Mittelalterliche Geschichte ein umfassendes Bild einer faszinierenden Epoche. Dazu versichert er sich eines prominenten Reisebegleiters: Albrecht Dürer der Jüngere (1471-1528), Maler, Grafiker, Mathematiker und Kunsttheoretiker. Der herausragende Vertreter der Renaissance stand doch auch noch in den Traditionen des Mittelalters. Im Vorwort schreibt der Autor: "Auf den folgenden Seiten wollen wir Freuden und Leiden aus seinen Augen betrachten, ihn als Begleiter auf dem Weg durch die Zeit um 1500 an der Seite haben. Statt Dürer einmal mehr zu beschreiben und seine Werke zu sezieren, blicken wir aus seinen Augen auf die Welt um ihn herum. Er leiht uns dazu seine Texte und seine Bilder, die schlaglichtartig zeigen, wie man sich diese dynamische Epoche vorstellen kann. So entsteht ein kulturhistorischer Rundgang, auf dem wir zwar Dürer näher kennenlernen, ihn aber vor allem selbst seine Welt beschreiben lassen."

Romedio Schmitz-Esser, der u. a. an den Universitäten Graz und München und als Stadthistoriker von Hall in Tirol tätig war, wurde für seine Habilitation mehrfach ausgezeichnet. "Um 1500" hätte es verdient, zum Wissenschaftsbuch des Jahres gewählt zu werden. Die 50 Kapitel umfassen das Leben von der Geburt bis zum Begräbnis. Familie und Soziales sind ebenso Themen wie Religion, Wirtschaft, Kunst, Politik, die Habsburger, Ritter, Luxus, Erfindungen, Entdeckungen und vieles mehr. Alle sind spannend zu lesen und beginnen jeweils mit der Reproduktion eines Dürer-Werkes. Die Federzeichnung "Geburt Christi" entstand auf der Reise an den Oberrhein, die der junge Künstler als wandernder Handwerker unternahm. "Die für Mutter und Kind geglückte Geburt, die hier am Beispiel der Heiligen Familie ins Bild gesetzt ist, war in der Zeit um 1500 durchaus keine Selbstverständlichkeit." Damals starb rund ein Fünftel der Kinder als Baby oder Kleinkind. Heute sind es weniger als 0,5 Prozent. Die Familie Dürer hatte 18 Nachkommen, nur drei, darunter der Älteste, Albrecht, erreichten das Erwachsenenalter.

Um 1500 herrschte das Modell von sechs Lebensphasen, von denen drei der Kindheit zugerechnet wurden: Infantia (Kleinkind), Pueritia (Schulzeit, sieben bis ca. 13 Jahre), Adolescentia (Jugend, bis zur Gründung des eigenen Haushalts). Albrecht Dürer entstammte einer Familie von Goldschmieden, sein Großvater und sein Schwiegervater hatten diesen Beruf ausgeübt und auch er sollte, wie üblich, die Werkstatt des Vaters übernehmen. Dieser erkannte jedoch das Talent des Sohnes und vermittelte ihn dem bekannten Nürnberger Maler und Meister des Holzschnitts, Michael Wolmut. Dieser konnte sich glücklich schätzen, ein Universalgenie wie den jungen Dürer als Mitarbeiter in seiner Werkstatt zu haben. "Er brauchte dazu Männer, die nicht nur ein Verständnis für den Umgang mit dem Pinsel hatten, sondern die auch in der Lage waren, dreidimensional und seitenverkehrt zu arbeiten … Albrecht Dürer war dafür ideal geeignet, denn die Ausbildung als Goldschmied bei seinem Vater hatte diese Fähigkeit trainiert … und widmete dieser Kunstgattung so hohe Aufmerksamkeit, dass er schließlich auch eine neue Qualitätsstufe des Holzschnitts erreichen sollte."

Die Zeit um 1500, an der Schwelle vom Spätmittelalter zur Neuzeit, war eine aufregende Epoche, vergleichbar mit jener, die 500 Jahre später die Menschen verunsichert. Das Zeitalter der Erfindungen und Entdeckungen erweiterte den Horizont. Das konfessionelle Zeitalter erschüttete die religiösen Traditionen. Der Humanismus rückte den Menschen in den Mittelpunkt. Die Renaissance brachte eine neue Kunst hervor. Am bedeutendsten, auch für Dürer, war die durch die Erfindung des Buchdrucks (um 1450) hervorgerufene Medienrevolution. "Der Buchdruck war zu dieser Zeit noch ein junges Gewerbe, das in Europa kaum länger als eine Generation betrieben und in Nürnberg überhaupt erst im Entstehen begriffen war, als Dürer zu Wolgemut wechselte." Im Zusammenhang mit der neuen Technik stand die Papiererzeugung (statt Pergament) und die Entwicklung der Schriftart Antiqua, die man - im Zeitgeist der Renaissance - fälschlicherweise auf die römische Antike zurückführte.

"Dürer war ein mobiler Mann", weiß der Autor. "Neben der Gesellenreise gehörten dazu vor allem noch zwei größere Reisen: Bereits ein Jahr nach der Hochzeit begab sich Dürer 1495 auf eine Reise durch Tirol, von der sich zahlreiche Landschafts- und Städtezeichnungen erhalten haben. Ein Jahrzehnt später besuchte er Venedig, wo er sich längere Zeit aufhielt. Um 1520 kam er mit seiner Frau nach Antwerpen, Beschreibungen und Federzeichnungen geben davon Zeugnis. Vom Osmanischen Reich, den "beiden Indien" (Asien und Amerika) und Afrika erlangte der Künstler nur aus zweiter Hand Kenntnis. Für Kaiser Maximilian zeichnete er aber auf dessen Wunsch "Kalikuter" genannte Inder. Hier spielte die künstlerische Phantasie ebenso mit wie bei der 1494/95 entstandenen Federzeichnung "Orientalischer Herrscher". Dessen Attribute, Schwert und Kreuz, waren gerade nicht typisch für das Osmanische Reich. Hingegen porträtierte Dürer 1521 eine Afrikanerin namens Katharina. Die Zwanzigjährige war Dienerin eines Portugiesen in Amsterdam. Im Haus des Gewürzhändlers war der Künstler ein gern gesehener Gast. Von seinen portugiesichen Freunden erhielt er exotische Souvenirs, wie indische Baumwollstoffe oder Salzfässer aus Elfenbein. "Mit Freude sammelte Dürer Gegenstände aus den für Europa neu erschlossenen Weltgegenden", beispielsweise Kokosnüsse, Korallen oder Nautilusschnecken.

Besonders interessierten ihn große Wassertiere, wie ein Walross oder ein in den Niederlanden gestrandeter Wal. Oft kopiert wurde der Holzschnitt eines Panzernashorns, (1515) das als Geschenk für den Papst gedacht war, aber bei einem Schiffbruch umkam und ausgestopft wurde. "Dürer selbst hatte es nie gesehen, seine Darstellung ist alles andere als naturnah und dichtet dem Tier sogar noch ein zweites Horn über dem Nacken an." Das Rhinozeros gilt als Gegenstück zum prominenten Hasen, dessen Aquarell aus dem Jahr 1502 einen besonderen Schatz der Graphischen Sammlung Albertina darstellt. Das 25 mal 22,5 cm große Blatt zeigt einen Feldhasen in hockender Stellung. "Aufmerksam blickt er mit aufgestellten Ohren in den Raum vor sich und wirkt damit so lebendig, dass man ihm bei einer unbedachten Bewegung ein rasches Fliehen zutrauen würde. Das Bild scheint unschuldig und überzeitlich. …"

Romedio Schmitz-Esser schließt sein Werk mit der Feststellung, mit Dürers Augen die Welt zu sehen, ermögliche auch einen neuen Blick auf die eigene Gegenwart. "Historisch betrachtet wird hier besonders deutlich, wie wichtig es ist, die Epochengrenze zwischen Mittelalter und früher Neuzeit zu überwinden … Die Zeit um 1500 war mindestens ebenso von neuen Narrativen und Möglichkeiten geprägt wie von alten Traditionen und vorgegebenen Perspektiven. In diesem oft harten, manchmal auch fließenden Nebeneinander besteht eine der größten Faszinationen der von uns mit den Augen von Albrecht Dürer besuchten Epoche."