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Richard Cockett: Stadt der Ideen#

Bild 'Cockett'

Richard Cockett: Stadt der Ideen. Als Wien die moderne Welt erfand. Aus dem Englischen von Stephan Gebauer. Molden Verlag Wien. 432 S., ill., € 40,-

"Tatsächlich kann niemand, der einen genaueren Blick auf die Entwicklungen wirft, den Einfluss Wiens auf erstaunlich breit gefächerte wissenschaftliche und kulturelle Felder - von der Kernspaltung über das Einkaufszentrum und die Psychoanalyse bis zur Einbauküche - leugnen," schreibt der britische Historiker und Journalist Richard Cockett in der Einleitung seines Werkes, das als “Wissenschaftsbuch des Jahres 2025” nominiert ist. Für die Kulturgeschichte Wiens interessiert er sich seit drei Jahrzehnten. "Auf jedem Gebiet, mit dem ich mich beschäftigte, … stieß ich unter den Pionieren jeder Disziplin normalerweise auf eine Wienerin oder einen Wiener. Ich war mir sicher, dass hier eine bedeutsame Erkenntnis schlummerte, ein fehlendes Glied in der Geschichte des 20. Jahrhunderts."

Seine Forschungen hat Richard Cockett in diesem mehr als 400-seitiges Bestseller zusammengefasst. Er bietet eine einmalige Zusammenschau auf die Kulturgeschichte der letzten eineinhalb Jahrhunderte. Zahlreiche historische Fotos bilden einen Spiegel des Zeitgeistes. So stellt das Buch "den ersten Versuch dar, dem Einfluss Wiens auf die westliche Welt … nachzuspüren." Es gliedert sich in drei große Kapitel. Das erste beschreibt die "Wandlung zu einer Stadt der Ideen in den 'goldenen Epoche' vor dem Ersten Weltkrieg". Im zweiten Teil geht es um das Rote Wien. Schließlich behandelt der Autor den weltweiten Einfluss der Wiener Emigranten und Exilanten.

Den ersten Teil übertitelt er "Wiener Erziehung: Das Rationale und das Antirationale". Die "Dezemberverfassung" Kaiser Franz Josephs (1867) - eine der fortschrittlichsten ihrer Zeit - garantierte die Gleichheit vor dem Gesetz, unabhängig von der Ethnie, sowie Meinungs-, Religions- und Versammlungsfreiheit. Zuwanderer aus den Kronländern erhofften sich in der viertgrößten Stadt des Kontinents ein besseres Leben. Die historische Stadtbefestigung musste der prächtigen Ringstraße weichen. Juden erhielten umfassende Bürgerrechte, sie legten traditionell großen Wert auf Bildung. Dies trug wesentlich zur "Explosion des Talents" in der Stadt bei. Mäzenatentum bestimmte die Identität des Großbürgertums.

Das nächste Kapitel ist dem "Schwarzen Wien" und der "Geburt der populistischen Politik" gewidmet, allen voran Bürgermeister Karl Lueger. In seiner Regierungszeit (ab 1897) entwickelte sich Wien zur modernen Großstadt. Otto Wagner plante das Gesamtkunstwerk Stadtbahn. Straßenbahn, Gas- und Elektrizitätsversorgung wurden kommunalisiert, die II. Hochquellenwasserleitung und soziale Institutionen eingerichtet. Unseligerweise bekannte sich Lueger zum Antisemitismus.

"Aufstieg und Fall des Roten Wien" behandelt die Bemühungen um den "neuen Menschen" im Wien der Zwischenkriegszeit (1919-1934). Gestützt auf die fortschrittlichsten "wissenschaftlichen Theorien jener Zeit" sah die erstmals gewählte sozialdemokratische Partei darin ihren Auftrag. Richard Cockett nennt das Rote Wien "das ambitionierteste politische Projekt seiner Zeit", dessen Bedeutung kaum überschätzt werden könne. Von der Mutterberatung bis zur Kremation war an alles gedacht. In einem Jahrzehnt entstanden 65.000 Gemeindebauwohnungen. Die Wohlfahrtspolitik - nach dem Motto "Ein gesunder Geist in einem gesunden Körper" erfasste das Leben der Arbeiter. Prägende Figuren waren der Gesundheitsstadtrat und Universitätsprofessor Julius Tandler sowie Otto Neurath. Dieser - "der Inbegriff des mitteleuropäischen Universalgelehrten" - galt als "führender Kopf des Roten Wien". "So lange das Rote Wien Bestand hatte, regte seine politische Methode, die eine enge Beziehung zwischen Theorie und Praxis herstellte, die geistige Produktion der Zwischenkriegsjahre deutlich an. So entstand eine spezifisch wienerische intellektuelle Kultur, die sich langfristig auswirken sollte." Richard Cockett konstatiert "Ein neues Denken für eine neue Epoche: Die Geburt der Wissensökonomie." In dieses Kapitel fallen Persönlichkeiten wie die Psychologen Karl und Charlotte Bühler, der Soziologe Paul Felix Lazarsfeld, die Sozialpsychologin Marie Jahoda, Psychoanalytiker wie Alfred Adler, Viktor Frankl oder Wilhelm Reich, Komponisten wie Arnold Schönberg und Alban Berg, die Philosophen und Mathematiker des Wiener Kreises - "die vermutlich bekannteste intellektuelle Gruppe der Zwischenkriegszeit" - Architekten wie Adolf Loos und Josef Frank, Mathematiker wie Karl Menger und Kurt Gödel.

Ein umfassender Abschnitt widmet sich "Feminismus und Sozialismus". Erst 1892 eröffnete in Wien das erste Mädchen-Gymnasium, fünf Jahre später begann die schrittweise Zulassung von Frauen zum Hochschulstudium. Drei der frühen Gemeinderätinnen waren die Soziologin Grete Leichter, die Architektin Margarete Lihotzky und die Psychologin Charlotte Bühler. Sie bildete viele Studentinnen aus, wie Herta Herzog, eine Pionierin der Marktforschung. Lise Meitner beschrieb als Erste die Kernspaltung. Hedwig Kiesler machte als Filmschauspielerin Hedy Lamarr Karriere und war an der Erfindung des Frequenzsprungverfahrens ("Bluetooth") beteiligt. Anna Freud wirkte als "diskrete Revolutionärin" für die Rechte des Kindes. Sie musste, wie viele Intellektuelle, in der NS-Zeit aus Österreich fliehen und setzte ihre Arbeit in Großbritannien fort.

Den "Emigranten und Exilanten" ist der umfangreiche dritte Teil des Werkes gewidmet. Die ersten kamen schon vor dem Ersten Weltkrieg nach Amerika und Großbritannien. Adolf Loos, der sich 1893-1896 in den USA aufhielt, war von der US-Architektur zutiefst begeistert. Sein Anhänger Richard Neutra prägte die "Westküstenmoderne", deren Häuser die spezifischen Bedürfnisse ihrer Bewohner befriedigen sollten. Der Universalkünstler Joseph Urban gilt als Mitbegründer des American Art déco und Erster, der in Amerika moderne Filmkulissen gestaltete. Die Musik für die frühen Hollywood-Filme schrieben das "musikalische Wunderkind" Max Steiner und sein Rivale Erich Wolfgang Korngold. Sigmund Freud kam 1909 erstmals in Amerika. Nirgends anders sollten seine Ideen so großen Einfluss ausüben. Sie beherrschten die (Konsum-)Kultur. Die p.r.-Manager lernten, Produkten emotionalen Wert zu verleihen. Motivations-, Markt- und Meinungsforschung entwickelten sich. Die Erkenntnis "Sex sells" des Wieners Ernest Dichter wirkte bahnbrechend. "Der Wiener, der den wichtigsten Beitrag zur Architektur des Einzelhandels leistete, war jedoch Victor Gruen." Er erfand das Shoppingcenter ("Mall") als multifunktionales "Stadtzentrum" und wurde dadurch zum einflussreichsten Architekten der Nachkriegsgeschichte.

Auch in Großbritannien übten die WienerInnen ihren bedeutsamen, langfristigen Einfluss aus. Zu ihnen zählten Karl Raimund Popper, der Begründer der politischen Philosophie und des Kritischen Rationalismus, und der befreundete Nobelpreisträger Friedrich August von Hajek. "Die Wiener in Großbritannien, darunter Wittgenstein, Kris und Gombrich, modernisierten wichtige Disziplinen und die Verleger hauchten dem Buchmarkt neues Leben ein. Aber der kontinentalen Moderne als künstlerischer und ästhetischer Bewegung fiel es schwer, auf der Insel Fuß zu fassen." Gelungen ist es den Wienerinnen Lucie Rie (geb. Luzie Gomperz) und Gaby Schreiber. Ries Keramiken sind heute weltweit begehrt. Kürzlich wurde eine ihrer Schalen um 340.000 $ versteigert. Gaby Schreiber, die einflussreichste Designerin Englands, gestaltete das Innere des damals modernsten Flugzeugs der Welt.

Die letzten beiden Kapitel des Buches, das unendlich viel zum Verständnis beiträgt, sind der Nationalökonomie, dem Spezialgebiet des Autors, und einer "Bilanz" gewidmet. Was machte gerade Wien zur "Stadt der Ideen" ? Richard Cockett schreibt: "Ein offenkundiger Unterschied zu anderen großen Hauptstädten bestand darin, dass die Bevölkerung Wiens zu einem großen Teil aus Zuwanderern bestand, die oft aus abgelegenen Regionen des Habsburgerreichs stammten." Juden spielten dabei eine wesentlich Rolle. Zum spezifisch wienerischen Beitrag zur Ideengeschichte bemerkt der Autor: "Während die Forschung anderswo in Europa in streng kontrollierte und sich selbst beschränkende akademische Disziplinen zergliedert war, förderten die Wiener bewusst den Zusammenstoß von Ideen und Methoden. In dem Bestreben, die Grenzen … zu sprengen, schufen die Wiener ganz neue Forschungsfelder. Die Erfindung neuer Disziplinen war nicht ihr erklärtes Ziel, aber ihr intellektueller Stil hatte genau das zur Folge."

hmw