Rüdiger Görner: Bruckner#
Rüdiger Görner: Bruckner. Der Anarch in der Musik. Zsolnay Verlag Wien. 384 S., € 32,90
Kaum klingt das "Brucknerjahr" zum 200. Geburtstag des Komponisten aus, kündigt sich schon der nächste musikalische Jahresregent an. Anton Bruckner (1824, Ansfelden, OÖ -1896, Wien) und Johann Strauß (1825, Wien - 1899, Wien) waren Zeitgenossen. Ähnliche Lebensdaten und ihre Jahrhunderte überdauernden Schöpfungen verbinden die beiden Meister der Tonkunst. Vielleicht findet sich ein Autor für eine vergleichende Biographie. Eines der ersten Bücher zum Brucknerjahr war die von Alfred Weidinger und Klaus Petermayr herausgegebene wissenschaftliche Abhandlung " Anton Bruckner. Zu Artikeln von Fachleuten wie der Musikwissenschaftlerin Sandra Föger-Harringer, dem langjährigen ORF-Musikredakteur Johannes Leopold Mayer, dem Historiker Klaus Petermayr und dem Museumsmanager Alfred Weidinger kommen rund zwei Dutzend weiterer Beiträge von ExpertInnen. Sie zeichnen ein umfassendes Bild des verkannten Genies aus Oberösterreich. Ganz anders geht der der Texter Florian Sedmak an das Phänomen Bruckner heran. In Dickschädels Reisen Durch Oberösterreich mit Anton Bruckner verfolgt er auf originelle Weise die 37 Stationen des Komponisten in dessen Heimatbundesland. Am Ende des Brucknerjahres stellt der Zsolnay-Verlag ein fast 400-seitiges Werk vor, das er als Roman bezeichnet. Sein Verfasser, Rüdiger Görner, ist Professor an der Queen Mary University of London. Seine Forschungsschwerpunkte sind Wissenschaft und Musik in der deutschsprachigen Literatur. In früheren Künsterbiographien beschäftigte er sich mit Rainer Maria Rilke, Georg Trakl und Oskar Kokoschka. Sein Bruckner-Buch trägt den Untertitel "Der Anarch in der Musik". Ein treffendes Charakteristikum für den Meister, der als "Musikant des lieben Gottes", noch schlimmer als "leichtgläubiger Tölpel" oder "großes Kind" abgetan wurde. Für Rüdiger Görner war Bruckner "ein tiefreligiöser Einzelgänger, der sich keiner Schule oder Lehrmeinung anschließen wollte". Er würdigt ihn: "Unter den bedeutenden Komponisten ist Anton Bruckner eine singuläre Erscheinung. Seine Lebens- und Schaffensenergie galt mit einer ungewöhnlichen Entschiedenheit der Symphonie, die durch ihn ihre eigenen traditionellen Grenzen sprengte. Durch sie wagte er das Äußerste, bis dahin Unerhörte, und das mit entschiedener Ausschließlichkeit. Selbst seine kirchenmusikalischen Kompositionen (Messe / Motette) richteten sich auf eine auf das Symphonische hin orientierte Polyphonie. … Bruckner entwickelte sich zu einem Radikalen im Dienst an der musikalischen Kunst."
Rüdiger Görner gliedert sein vielseitiges Werk in drei Teile. Den ersten nennt er "Orientierungen". Es behandelt die Anfänge des Hilfslehrers in oberösterreichischen Dörfern und St. Florian. Schon zeichnet sich das Leitmotiv in Bruckners Leben ab: Ablehnung, verkannt werden, Selbstzweifel und der Hang, sich bei (auch freiwillig gewählten) Prüfungen als der Beste zu beweisen. Ein zweiter roter Faden sind die Schwärmereien und abgelehnten Heiratsanträge für zahlreiche junge Frauen. Görner nennt es "Trauma Frau". Schon seine erste Stelle in Windhaag bei Freistadt beendete der junge Lehrer unglücklich. Er musste nicht nur vormittags, nachmittags und an Sonntagen in der zweiklassigen Volksschule unterrichten und Mesnerdienste verrichten, sondern auch den Stall seines Chefs, des Lehrers, ausmisten. Seine Schlafstatt stand im Hausflur und die schmale Kost wurde mit dem Gesinde geteilt. Auf die Beschwerde (nicht Bruckners, sondern des Lehrers) folgten die Versetzung und die Aussicht auf eine Stelle in St. Florian, die er 1845 antrat. 1852 reiste Bruckner erstmals per Schiff nach Wien. Es folgten mehrere Reisen, unter anderem, weil der schon über Dreißigjährige beschlossen hatte, Unterricht beim berühmten Musiktheoretiker Simon Sechter (1788-1867) zu nehmen. Obwohl Bruckner inzwischen (seit 1856) als Domorganist in Linz wirkte und das Studium bei Sechter beendet hatte, drängte es ihn, erneut eine Orgelprüfung in der Wiener Piaristenkirche abzulegen. Sie endete mit dem berühmten Ausspruch des Hofkapellmeisters Johann Herbeck "Er hätte uns prüfen sollen."
Der zweite Teil - "Kunstwillen" übertitelt - beinhaltet die wohl größte Zäsur im Leben des Genies. 1868, mit 44 Jahren, übersiedelte Anton Bruckner nach Wien, wo er die zweite Hälfte seines Lebens verbrachte. Über Herbecks Vermittlung wurde er Hofkapellorganist und in Nachfolge des Musikpädagogen Simon Sechter Professor für Harmonielehre, Kontrapunkt und Orgelspiel am Konservatorium der Gesellschaft der Musikfreunde. Seine erste Wohnung fand er in der Währinger Straße 41. Als sich Bruckner im heutigen 9. Wiener Gemeindebezirk einquartierte, war dieser bereits (seit 1850) ein Teil der Haupt- und Residenzstadt. Die Stadtbefestigungen waren 1857 gefallen. In 800 Meter Gehdistanz wuchs beim Beginn der Währinger Straße die Votivkirche als "Probegalopp" der Ringstraßenzone empor. Das neogotische Gotteshaus entstand in fast 25-jähriger Bauzeit nach Plänen des Architekten Heinrich von Ferstel (1828–1883) aus Anlass der Rettung Kaiser Franz Josephs (1830-1916) bei einem Attentat. Ferstel legte auf die beiden Türme besonderen Wert. Sie wurden im 10. Baujahr vollendet - 1868, als Bruckner seine erste Wiener Wohnung bezog. (Hier sei eine Anregung für die nächsten Auflagen des lesenswerten biographischen Romans angebracht: Auf Seite 152 wäre der Hinweis "… vom Semmering wehte es empfindlich kalt herunter in die Stadt." Der Kurort an der niederösterreichisch- steirischen Grenzen ist rund 75 km von Wien entfernt.) Die Zweizimmerwohnung Bruckners mit der Türnummer 10 (später als 11 bezeichnet) befand sich im 2. Stock. Sie umfasste einen Schlaf- und Essplatz. An der Wand hingen mehrere Bilder, ein Kruzifix und - hinter einem Vorhang verborgen - eine Fotografie der toten Mutter. Zur Einrichtung gehörten ein Pedalharmonium und ein Bösendorfer-Hammerflügel. In die Jahre Bruckners in der Währinger Straße fallen auch Einladungen zu Orgelkonzerten in Frankreich. "An jenem Mai-Abend in Notre Dame zweifelte niemand daran, soeben dem größten Organisten Europas gelauscht zu haben." Es folgten Reisen nach England - mit Spiel auf der weltgrößten Riesenorgel in der Londoner Royal Albert Hall - die Schweiz und zu Richard Wagner in Bayreuth. Bruckner blieb acht Jahre in der Währinger Straße. Zwischen 1868 und 1876 komponierte er hier unter anderem seine 2., 3., 4. und 5. Symphonie. Zwischen 1877 und 1895 wohnte er in der Inneren Stadt, Schottenring 5 und vollendete einen Großteil seiner Werke. 1875-1892 war Bruckner Lektor für Harmonielehre und Kontrapunkt an der Universität Wien. Sein letztes Quartier hatte er im Kustodenttrakt des Oberen Belvedere, von 1895 bis zu seinem Tod 1896.
Diesem "Ausklang" widmet Rüdiger Görner den dritten Teil seines Werkes, den er "Klanggestalten" nennt und in die Kapitel "Der Geschätzte" und "Der Gewordene" gliedert. Der Autor zitiert am Beginn seines eindrucksvollen Buches den deutschen Schriftsteller Wolfgang Hildesheimer - "Der Biograph bietet - meist unfreiwillig - das was hätte sein können, als Gewesenes an" - und meint an anderer Stelle, dass es keine Biographie gebe, "die nicht auch Fiktion wäre". Rüdiger Görner erzählt in seiner Vita Anton Bruckners "von einem in jedem Sinne wunderlichen Leben, über dessen Ergebnisse er wohl selbst am meisten erstaunt gewesen sein dürfte."