Mariella Gittler, Andreas Pfeifer, Peter Schöber (Hg.): Österreich – die ganze Geschichte#
Mariella Gittler, Andreas Pfeifer, Peter Schöber (Hg.): Österreich – die ganze Geschichte
Band 1, Von den Babenbergern bis zu Maria Theresia. Die offizielle Buchreihe zur ORF-III- Doku-Serie. Molden Verlag Wien. 208 S., ill., € 35,-
Die ganze Geschichte eines Landes wie Österreich aufzuzeigen, ist eine nahezu unlösbare Aufgabe. Das Team von ORF III hat sie bravourös bewältigt. Schon die erste Staffel im Weihnachtsprogramm 2023 erreichte mit 1,252 Millionen ZuschauerInnen 17 % des Fernsehpublikums. Die ZIB-Magazin-Moderatorin Mariella Gittler und Andreas Pfeifer, der die ORF-History- Reihe präsentiert, führen durch die vier mal zehn Folgen. Im Hintergrund wirkt ein eigener wissenschaftlicher Beitrat. Für den ORF ist das "multimediale Prestige-Projekt" Teil des öffentlich-rechtlichen Bildungsauftrags. So soll die Aufarbeitung und Vermittlung von Geschichte für das heutige Publikum und kommende Generationen bewahrt werden. Neben dem Dreh an Originalschauplätzen nützen die Sendungen im Digitalstudio alle Möglichkeiten der Technik, z. B. animierte Grafiken, Augmented-Reality-Darstellungen oder 3D-Karten.
Angesichts der überwältigenden Vielzahl an Effekten scheinen dagegen die Möglichkeiten, die ein Buch bieten kann, beschränkt. Doch das scheint nur so. Neben perfekt aufbereiteten Fakten gibt es nicht nur einprägsame Illustrationen, sondern auch QR-Codes zu den einzelnen Folgen. Der erste Band umfasst die ersten zehn. Dabei greifen die AutorInnen exemplarische Einzelschicksale heraus. Neben den vom Geschichtsunterricht bekannten Feldherren und Regenten sind es Menschen, von denen man selten hört. deren Lebenslauf aber vieles besser verstehen lässt.
Das erste Kapitel betitelt sich "Krieger und Baumeister". Darin geht es um Kreuzzüge und Rodungen, das "Startkapital für die Babenberger – das Lösegeld für den englischen König Richard Löwenherz – und den Einfluss Konstantinopels auf Wien. Die byzantinische Prinzessin Theodora wurde nach ihrer Ehe mit dem Babenberger Heinrich II. "Jasomirgott", zum Symbol des kulturellen Austauschs im Hochmittelalter.
Dem Spätmittelalter sind die nächsten drei Abschnitte gewidmet; "Die Herrschaft des Hungers", "Übersehene Kämpferinnen" und "Geburtswehen einer Weltstadt". Damals wurde der Grundstein für den Aufstiegs Österreichs gelegt. "Eine wichtige Weiche … stellt Rudolf von Habsburg (der erste römisch-deutsche König aus dem Geschlecht der Habsburger) mit dem Sieg über seinen Widersacher Ottokar Premysl in der Schlacht von Dürnkrut 1278. " Dass Rudolf IV, "der Stifter", 1358 an die Regierung kam, verdankte er letztlich seiner Tante Margarete von Tirol. Die unerschrockene Frau brach mit Konventionen und verfolgte eigene politische Interessen. Sie war nicht die einzige "Kämpferin". Elisabeth, die Witwe des römisch-deutschen Kaisers Albrecht II., vertraute darauf, dass ihr noch ungeborenes Kind (Ladislaus Postumus) der Sohn sei. dem als Thronfolger die Stephanskrone zustehe. Sie ließ sich nicht in eine neue Ehe drängen, sondern beauftragte ihr Kammerfrau Helene Kottanerin die symbolträchtige Krone zu entwenden. Die abenteuerliche und gefährliche Geschichte der Kottanerin ist eines der ersten autobiographischen Zeugnisse einer deutschsprachigen Autorin.
Die Neuzeit begann in Österreich mit einer Reihe von Katastrophen. Ende des 13. Jahrhunderts ging die mittelalterliche Warmzeit in die "Kleine Eiszeit" über. Wetterextreme beherrschten das folgende halben Jahrtausend. Hungersnöte führten zu sozialen Unruhen. Um Schuldige für den Klimawandel zu finden, wurden zahlreiche Menschen der Hexerei bezichtigt. Das 16. und 17. Jahrhundert (also nicht das "finstere Mittelalter") gelten als "Hochzeit der Hexenverfolgungen." Davon war auch die Mutter des Astronomen Johannes Kepler betroffen. Der prominente Wissenschaftler tat alles, um sie von dem Verdacht zu befreien. "Hexenverfolgungen haben in Österreich circa 650 Menschenleben gefordert. In ganz Europa ist von etwa 50.000 Opfern die Rede. … in den von der protestantischen oder katholischen Konfession geprägten Gebieten des deutschsprachigen Raums waren es überwiegend Frauen (80 Prozent), in Island oder Russland hingegen lag der Anteil der Männer bei 75 Prozent."
Die Neuzeit wird durch Erfindungen, Entdeckungen und die Reformation charakterisiert. Nicht zu vergessen in dieser Epoche ist "Das große Geld". So liest man: "Die Jörgers sind der Prototyp des adeligen Frühkapitalismus. Geldvermehrung wird in dieser Zeit zum Selbstzweck." Die Leitgestalt im Buch ist der Protestant Helmhard IX. Jörger von Tollet (1572-1631), einer der reichsten Adeligen und Hofkammerpräsident. Es gelang ihm, Insiderwissen in private Gewinne umzumünzen. "Damals störte das niemanden", aber dass er dem katholischen Kaiser Ferdinand II. die Huldigung verweigerte, trieb den Protestanten in den Ruin. Er war jahrelang inhaftiert, bis seine Frau beim Kaiser ein Pardonierungsdekret erwirkte. Doch alle Güter wurden eingezogen und er starb verarmt als letzter seines Geschlechts.
Ebenfalls ins 17. Jahrhundert fällt die Pestkatastrophe von 1678/79. Schon zuvor hatte die durch Flöhe übertragene Seuche das Land immer wieder heimgesucht und im Mittelalter ein Drittel der europäischen Bevölkerung das Leben gekostet. Kaiser Leopold I. flüchtete mit Familie und großem Hofstaat aus Wien. Er bestellte Paul de Sorbait zum Generalinquisitor in Pestangelegenheiten. Der Mediziner verfügte eine Reihe von Lockdown-Maßnahmen. Er verbot Menschenansammlungen, Schulunterricht, Begräbnisse auf dem Stephansfriedhof, den Besuch von Gaststätten und Gottesdiensten. Bewohner von Häusern mit Pestkranken durften nicht hinaus. Die Anordnungen ließ Sorbait auf den Marktplätzen verlesen und drohte mit Sanktionen bis zur Todesstrafe. "Auch 1679 halten sich nicht alle an die Maßnahmen." Ein Fünftel der Bevölkerung starb.
Einige Jahre später bahnte sich die nächste Bedrohung – durch das Osmanische Reich – an. Spione wie der armenische Kaufmann Diodato erfuhren zuerst davon. "Am 14. Juli (1683) errichtet ein 120.000 Mann starkes Heer unter Großwesir Kara Mustafa Pascha sein Zeltlager vor Wien … Fünftausend osmanische Mineure … untergraben die Bastionen der Innenstadt." Im September kam den Wienern ein deutsch-polnisches Entsatzheer mit 70.000 Soldaten zu Hilfe. Wesentlichen Anteil am glücklichen Ausgang hatte der unermüdliche Einsatz des jüdischen Hoffaktors Samuel Oppenheimer, der das Befreiungsheer finanzierte.
"Die Jahrzehnte nach der Türkenbelagerung setzen in Wien einen Bauboom in Gang. In den Vorstädten entstehen zahlreiche barocke Garten- und Schlossanlagen, etwa das Belvedere und das Palais Schwarzenberg." Die Erzählung dieser Entwicklung – von der Barockkultur zur Aufklärung – ist der Inhalt des letzten Kapitels im ersten Band. Man begegnet der Französischen Revolution, der industriellen Revolution, Malern, Dichterfürsten, Komponisten und Freimaurern. Die Reformen unter Maria Theresia und Joseph II. sicherten die Monarchie noch einmal für eineinhalb Jahrhunderte ab."
Im Weihnachtsprogramm 2024 wird die preisgekrönte Serie fortgesetzt. In zehn Folgen geht es um "das lange 19. Jahrhundert, die Ära von der französischen Revolution bis zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs". Die dritte Staffel des bisher größten Dokumentationsprojekts des ORF wird die Zeitgeschichte ab 1918 beleuchten und ist im Frühjahr geplant, die vierte startet im Herbst 2025.