Raphael Gross - Liliane Weissberg (Hg.): Was ist Aufklärung ?#
Was ist Aufklärung ? Fragen an das 18. Jahrhundert. Hg. Raphael Gross und Liliane Weissberg für das Deutsche Historische Museum. Beiträge von H. Böhme, H. Bredekamp, U. Chakravarty, R. Chartier, P. Cheek, R. Darnton, E. Décultot, P. Franks, D. Fulda, V. Gerhardt, P. E. Gordon, P. Guyer, J. Habermas, M. Hagner, G. Hindrichs, J. Israel, M. Jacob, A. Lilti, P. Maciejko, M. Mulsow, A. Norton, K. Ospovat, E. Rothschild, U. J. Schneider, M. Suarez, A. Sutcliffe. Verlag Hirmer, München. 320 S. ill., € 41,10
Raphael Gross ist Präsident des Deutschen Historischen Museums, Berlin. Liliane Weissberg ist Professor in Arts and Science an der University of Pennsylvania. Sie haben gemeinsam mit internationalen ExpertInnen die Begleitpublikation zu einer Ausstellung im Deutschen Historischen Museum verfasst. Das Haus in Berlin versteht sich als Ort "zur Stärkung historischer Urteilskraft, an dem übergreifende philosophische, ethische und historische Fragen verhandelt werden." Im Kant-Jahr 2024 widmet es dem größten Philosophen der Neuzeit eine umfassende Ausstellung. Der Geburtstag von Immanuel Kant jährt sich heuer zum 300. Mal. Raphael Gross schreibt, die Schau gehe über Person, Werk und Zeit Kants hinaus. "Wir versuchen das sogenannte lange 18. Jahrhundert in seiner internationalen Perspektive in den Blick zu nehmen."
1784 stellte Immanuel Kant in der "Berlinischen Monatsschrift" die viel zitierte Frage "Was ist Aufklärung ?" Er beantwortete sie: "Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit. Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Selbstverschuldet ist diese Unmündigkeit, wenn die Ursache derselben nicht an Mangel des Verstandes, sondern der Entschließung und des Muthes liegt, sich seiner ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Sapere aud ! Habe Muth dich deines eigenen Verstandes zu bedienen! ist also der Wahlspruch der Aufklärung."
Was ist Aufklärung ? Die Historikerin Emma Rothschild von der Havard-Universität (USA) fasst drei Aspekte zusammen: "In einer ersten Bedeutung hieß Aufklärung schlicht Bildung oder Wissen. … Die Aufklärung in ihrer zweiten Bedeutung als Sekte gelehrter Männer, als intellektuelle Bewegung oder Kampagne war selbst ein Erziehungsprojekt … Aufklärung in ihrer dritten Bedeutung, als eine Gesinnung oder eine Form des Denkens, wie Kant sie verstand, beruhte in einem tieferen und eher beunruhigenden Sinne auf Bildung."
Die Autorin ist eine der internationalen ExpertInnen, die Antworten auf die vor 240 Jahren von Kant gestellte Frage finden. Sie umkreisen diese in 13 Kapiteln: "Eine Klärung des Begriffes", Die Frage nach der Vernunft", "Die Suche nach Wissen und die neue Wissenschaft", "Die Ordnung der Welt", "Die Frage nach der Religion", "Geschlechterrollen", "Die Bedeutung der Pädagogik und die Erfindung des modernen Individuums", "Die Gleichheit der Menschen", "Die Lehren der Antike", "Staatskunst und politische Freiheit", "Merkantilismus und Weltbürgertum", "Publikationsmedien und öffentliche Räume", "Was bleibt?"
In diesem großen Rahmen ist der österreichische Beitrag marginal, obwohl sich sechs Wiener Museen auf der Leihgeberliste finden. Im Buch sind charakteristische Exponate abgebildet, um die anspruchsvollen Texte zu ergänzen. Eine Illustration zeigt den Charakterkopf "der Griesgrämige" des österreichischen Bildhauers Franz Xaver Messerschmidt (1736-1783). Maria Theresia schätzte den Künstler und machte ihn zu ihrem "Hofbildhauer". An der Schwelle zwischen Barock und Klassizismus fertigte er Dutzende Büsten an, die Emotionen und Gesichtsbewegungen zum Ausdruck bringen. Das Belvedere besitzt die meisten "Kopf-Stücke". Im Buch heißt es dazu. "Mit den Köpfen wollte Messerschmidt die tiefste Wahrheit des Menschen, seinen Charakter und seine Leidenschaften darstellen." Und in "Wikipedia" erfährt man: "Die Büsten, die durch ihre grotesken, mehrdeutigen und irritierenden Gesichtsausdrücke faszinieren, spiegeln die neu formulierten Ideale der Kunst der Aufklärung des späten 18. Jahrhunderts wider."
Ein Bild aus dem Wien Museum zeigt Angelo Soliman (1721-1796). Sklavenhändler brachten ihn als Kind aus Nigeria nach Europa. Er lernte Deutsch, Englisch, Latein, Tschechisch, Französisch und Italienisch, war mathematisch begabt, ein exzellenter Schachspieler und Gesellschafter. Soliman wurde Kammerdiener beim Fürsten Johann Georg Christian Lobkowitz, dem er in einer Schlacht das Leben rettete. Nach dessen Tod kam er zu den Fürsten Liechtenstein, machte Karriere als Chef der Dienerschaft und Erzieher des Erbprinzen. In der Freimaurerloge, in der auch Mozart verkehrte, wirkte Soliman als Vize-Zeremonienmeister. Alle Verdienste bewahrten den "hochfürstlichen Mohren" nicht vor seinem makabren Schicksal. Präpariert, war er mehrere Jahre als ein Ausstellungsstück im kaiserlichen Naturalienkabinett. Inzwischen regierte Kaiser Franz II/I, der in den Ideen der Aufklärung eine Gefahr für die staatliche Ordnung sah und mit größter Härte gegen liberale Intellektuelle vorging. Die sterblichen Überreste des "edlen Wilden" verbrannten bei der Revolution 1848. Soliman gelang "eine beachtliche Karriere im Kreise des Hofadels und der aufgeklärten habsburgischen Elite." Er hatte Kontakt zu führenden Persönlichkeiten, auch zu Kaiser Joseph II.
In Österreich ist der Begriff Aufklärung untrennbar mit Kaiser Joseph II. (1741-1790) verbunden. 15 Jahre lang Mitregent seiner Mutter Maria Theresia, regierte er ab 1790 in den Ländern der Habsburgermonarchie als Alleinherrscher. Als Exponent des aufgeklärten Absolutismus betrieb er ein umfangreiches Reformprogramm. Dazu zählten das Toleranzpatent, das diskriminierten Minderheiten, wie Protestanten und Juden, freie Religionsausübung ermöglichte. Ein Ziel des Kaisers war es dabei, "die jüdische Nazion hauptsächlich durch bessere Unterrichtung und Aufklärung ihrer Jugend und durch Verwendung auf Wissenschaften, Künste und Handwerke dem Staate nützlicher und brauchbarer zu machen". Der Philosoph Moses Mendelssohn (1729 -1786), einer der wichtigsten Wegbereiter der jüdischen Aufklärung (Haskala) begrüßte die Toleranz. Doch sollte nicht staatlicher Zwang Vorurteile bekämpfen, sondern die Vernunft. Sein Mitstreiter Naphtali Herz Wessely lobte den kaiserlichen Erlass als Gelegenheit für die Juden, in ein neues "Goldenes Zeitalter" einzutreten.
In Wien entstanden im Sinn des Josephinismus markante Bauwerke wie die erste psychiatrische Klinik Kontinentaleuropas. Der "Narrenturm" im Allgemeinen Krankenhaus hat einen runden Grundriss. In den fünf Stockwerken befinden sich je 28 Zellen für 139 Patienten. Für das "Josephinum", die medizinisch-chirurgische Akademie zur Ausbildung der Militärärzte, engagierte der Monarch den prominenten Vertreter des Frühklassizismus, Isodor Canevale. Der Kaiser stattete die Anstalt großzügig mit mineralogischen, botanischen und zoologischen Sammlungen aus. Die Bibliothek umfasste 6.000 Bände. Eine besondere Sehenswürdigkeit sind 1.200 Wachsmodelle aus Florenz für das anatomisch-pathologische Museum. Restauriert, sind sie nun wieder in historischer Aufstellung in ihren Originalvitrinen aus Rosenholz und mundgeblasenem, venezianischem Glas zu sehen. Nach vierjähriger Renovierung ist das Josephinum seit 2022 wieder geöffnet. Auf rund 1.000 m² Ausstellungsfläche beherbergt die neu konzipierte Ausstellung u. a. eine chirurgische Instrumentensammlung aus dem 18. Jahrhundert. Auch der 9 m hohe, halbkreisförmige Hörsaal wurde wieder hergestellt und die originalen Wandmalereien von 1785 freigelegt . So ist das Josephinum eine eindrucksvolle, Stein gewordene Antwort auf die Frage "Was ist Aufklärung ?"