Reinhard H. Gruber: Der Wiener Stephansdom#
Reinhard H. Gruber: Der Wiener Stephansdom. Porträt eines Wahrzeichens.
Tyrolia Verlag Innsbruck - Wien. 192 S. ill., € 39,-
"Der Stephansdom ist das Herzstück von Wien, unbestrittenes Wahrzeichen der Bundeshauptstadt über alle konfessionellen Grenzen hinweg, ein Kulturdenkmal europäischen Ranges und als Tourismusziel das meist besuchte Bauwerk Österreichs" - mit mehr als 6 Mio. Besuchern jährlich. Reinhard H. Gruber, seit fast einem Vierteljahrhundert Domarchivar, hat mehrere Bücher über St. Stephan geschrieben. Für ihn ist der Dom viel mehr als "eine Stein gewordene Symphonie … ein Stück Himmel auf Erden." Der Autor möchte den Dom nicht nur als "begehbare Bauwerk" vorstellen, sondern auch den Zugang zu dessen geistlicher Botschaft erleichtern. Beides ist ihm in hervorragender Weise gelungen.
Bei Begegnungen im Dom wird er mit vielen Fragen konfrontiert, wie "Wem gehört der Stephansdom ?" oder "Wie alt ist der Dom?" Juristisch betrachtet, gehört der Dom sich selbst, ist eine eigene Rechtspersönlichkeit und ein eigener Wirtschaftskörper. Der eine Betrieb ist die Dombauhütte. Ihre 20 Mitarbeiter arbeiten mit traditionellen Handwerkstechniken wie im Mittelalter. Die 60 Angestellten des Kirchenmeisteramts sorgen für den reibungslosen Ablauf des Alltags in Dom und Pfarre.
"Wie alt ist der Dom ?" ist eine schwierige Frage, weil Quellen oft fehlen. Die erste schriftliche ist der "Tauschvertrag" anno 1137. Doch kamen bei Bauarbeiten römische Gräber aus dem 3. bis 5. Jahrhundert zu Tage. Der älteste erhaltene Teil ist das Westwerk aus dem 13. Jahrhundert. Dazu zählen das Riesentor, die Heidentürme und die Herzogsempore. Der Anfang des 14. Jahrhunderts errichtete "Albertinische Chor" sollte besser "Bürgerchor" heißen, weil die Wiener als Bauherren fungierten. Rudolf der Stifter legte 1359 den Grundstein für den gotischen Erweiterungsbau. Zehn Jahre später starb der Herrscher und die Bürger engagierten sich für ihr Gotteshaus.
Das nächste Kapitel ist den Portalen des Doms - Riesentor, Fürstenportale, Turmportale - gewidmet. Ihre Botschaft: "Wer eintritt, soll Glück und Segen empfangen." Im folgenden geht es um Türme, Glocken, Dombrand und Wiederaufbau. Es ist eines der umfang- und faktenreichsten Kapitel. Der 1359 bis 1433 errichtete Südturm war mit seinen 136,44 m damals der höchste Europas. Der Nordturm blieb mit knapp 70 m unvollendet. Unter seiner Renaissancehaube hat seit 1957 die "Pummerin" ihre Heimstätte. Ihre Vorgängerin, die nach ihrem Auftraggeber Kaiser Joseph I. benannte "Josephinische Glocke", ging 1945 zugrunde. Der erste Guß der neuen Pummerin, im Oktober 1950, misslang. Umso triumphaler verlief zwei Jahre später ihr Einzug in Wien. Beim ersten Läuten in der Silvesternacht 1952/53 brach der Klöppel. Die viertgrößte Kirchenglocke Europas wiegt mehr als 21 Tonnen, hat einen Durchmesser und eine Höhe von ca. 3 m. Das Festgeläute des Stephansdoms besteht aus einem Dutzend Glocken, bis 1940 waren es 14. Der Brand am 11. April 1945 zerstörte den aus fast 3000 Baumstämmen gezimmerten mittelalterlichen Dachstuhl, Decken und Gewölbe stürzten ein. 1948 wurde der Dom provisorisch wieder eröffnet und 1952 gleichzeitig mit der Pummerin neu geweiht. Alle Bundesländer hatten den Wiederaufbau der "Pfarrkirche Österreichs" ermöglicht.
Der 1647 geweihte Hochaltar ist der bedeutendste frühbarocke Altar Wiens. Die Seitenaltäre entstanden ab 1677. "Gott sei Dank" kam es im 19. Jahrhundert nicht zur Regotisierung. Dombaumeister Friedrich Schmidt verglich St. Stephan mit einem Buch, in das man nicht schreiben dürfe. Der Raumeindruck bleibt erhalten, weil "die barocken Seitenaltäre hinter den mächtigen Domsäulen verschwinden." Der Valentinsaltar, ein Meisterwerk aus dem Jahr 1507, überstand als einziger die barocke Umgestaltung. Er steht seit 1891 in der Eligiuskapelle, die als Anbetungskapelle Betern vorbehalten ist. Den Blickpunkt im Frauenchor bildet der große Marienaltar, den Kaiser Friedrich III. dem Zisterzienserkloster in Wiener Neustadt stiftete. Der Wiener Neustädter Altar kam kam im 19. Jahrhundert in den Stephansdom. Der vierflügelige Wandelaltar ist der einzige fast vollständig erhaltene Flügelaltar aus dem 15. Jahrhundert im Wiener Raum.
Als bekanntestes Kunstwerk des Stephansdoms gilt die aus Breitenbrunner Kalksandstein gemeißelte, um 1500 entstandene Kanzel, die zahlreiche symbolische Anspielungen enthält. Berühmt ist der "Fenstergucker" am Kanzelfuß, der den selbstbewussten Dombaumeister Anton Pilgram darstellen soll. Auch am 1513 geschaffenen Orgelfuß findet man sein Selbstporträt. "Eine Besonderheit von St. Stephan sind die vielen Pfeilerfiguren auf den mächtigen Domsäulen. … Sie begleiten den Besucher hin zum Zentrum der Kirche, wachen über ihn in feierlicher Form. … Der Figurenschmuck wurde gleichzeitig mit der Einwölbung des Langhauses zwischen 1446 und 1470 geschaffen." Die Idee zu diesem Bildprogramm dürfte auf Rudolf den Stifter zurückgehen, der seiner Kirche das Patrozinium "Allerheiligen" gab.
Der für seine provokativen und polemischen Texte bekannt Architekt Adolf Loos Bezeichnete den Stephansdom als weihevollsten Kirchenraum der Welt. Der Dom verfügt über zahlreiche Gnadenbilder und Gebetsorte. Nicht weniger als 93 Darstellungen der hl. Maria befinden sich auf seinen Altären, Pfeilern und Grabdenkmälern. Kardinal Schönborn nannte die Muttergottes "die beliebteste Wienerin. … Keine bekommt täglich so viele Blumen und Kerzen wie sie," Die bedeutendste Statue ist die Dienstbotenmuttergottes, eine Schöne Madonna aus der Zeit um 1300. Die Ikone Maria Pócs kam 1697 nach Wien. Das Gnadenbild war das Hausheiligtum (Palladium) der Habsburger. Drei Darstellungen im Mittelschiff zeigen die Schutzmantelmadonna, die älteste stammt aus dem Jahr 1340. Die Hausmutter in der Eligiuskapelle befand sich im aufgehobenen Chorfrauenkloster "Zur Himmelpforte."
Als "besondere Orte" beschreibt der Domarchivar Taufkapelle und Barbarakapelle. Er widmet sich dem Dom als Begräbnisort - mit Friedrichsgrab und Katakomben - und der Liturgie, "worauf es ankommt." Man erfährt viel Wissenswertes über die Dommusik und die Riesenorgel. Die erste, aus dem Jahr 1886, fiel dem Dombrand zum Opfer. Ihre Nachfolgerin wurde 1960 geweiht, aber nur eine Generation lang gespielt, dann musste sie als "stummes Wrack" außer Betrieb bleiben. Es folgten jahrelange Überlegungen, Gutachten und Projekte für einen Neubau. 2017 bis 2020 errichtete schließlich die Vorarlberger Firma Rieger das größte Musikinstrument Österreichs und eines der größten der Welt mit 130 Registern und 8588 Pfeifen.
"Andere Domkirchen werden bewundert, der Stephansdom wird geliebt", weiß der Wiener Erzbischof, Kardinal Christoph Schönborn. Das zeigt nicht zuletzt das Wirken des gemeinnützigen Vereins „Unser Stephansdom“. Der damalige Bürgermeister Helmut Zilk gründete ihn 1987, mit dem Ziel, Mittel zur Erhaltung des Kulturdenkmals aufzubringen. In den vergangenen Jahren ist schon viel geschehen: das Geläute wurde saniert. Ein zeitgemäßes Lichtkonzept lässt das Dom-Innere erstrahlen. Die Renovierung der Westfassade und des südlichen Langhauses ist abgeschlossen - "der berühmte Blick vom Graben zum Stephansdom ist seit langem wieder ohne Gerüst möglich."