Mathias Harzhauser - Thomas Hofmann: Wien am Sand#
Mathias Harzhauser - Thomas Hofmann: Wien am Sand. Von Prinz Eugen und der Seekuh in Ottakring. Eine Zeitreise durch die geologische Vergangenheit Wiens. Verlag Naturhistorisches Museum Wien. 168 S. ill., € 19,90
Wenn zwei bekannte Experten zur Zeitreise einladen, darf man etwas Besonderes erwarten. Mathias Harzhauser und Thomas Hofmann enttäuschen ihre LeserInnen nicht - im Gegenteil. Auf dem Weg durch 18 Millionen Jahre halten sie eine Menge Überraschungen parat. Mathias Harzhauser ist Leiter der Geologisch-Paläontologischen Abteilung des Naturhistorischen Museums Wien (NHM) und Universitätsprofessor in Graz. Thomas Hofmann wirkt als Bibliothekar der GeoSphere Austria und freischaffender Autor. So publizierte er u. a. über das Weinviertel (2014) und Trandanubien (2020).
Seit Jahren beliefern die beiden Autoren Zeitungen und Magazine mit Geschichten aus der geologischen Vergangenheit Wiens. "Was dem vielfach anekdotischen, stets jedoch fachlich fundierten Zugang bislang fehlte, war die systematische, wissenschaftliche Aufarbeitung der umfangreichen Fossilfunde aus den Ablagerungen des Wiener Stadtgebietes. Diese Lücke wird nun geschlossen," schreiben die Experten. "Mit rückblickendem Weitblick agieren wir in Kategorien von Hunderttausenden und Millionen von Jahren. … Der Höhepunkt der letzten Eiszeit, vor rund 20.000 Jahren, als Wien von kargen Tundren bedeckt war, ist für uns nur ein Wimpernschlag … Angesichts dieses gewaltigen Zeitrahmens relativiert sich so manches aus der schnelllebigen Zeit des 21. Jahrhunderts, womit wir die Probleme der heutigen Zeit freilich nicht verharmlosen wollen. " Bevor sich die Geologen einem Dutzend Wiener Fundstätten widmen, erklären sie Allgemeines aus der - für Laien komplizierten - Wissenschaft. Mathias Harzhauser und Thomas Hofmann verstehen sich nicht nur auf kompetente Beschreibungen, sondern würzen diese auch mit einer Prise Humor.
230 Fundpunkte gaben eine Vielzahl an Objekten frei. Allein das NHM hat 23.000 Fossilien in seiner Datenbank erfasst. Das spektakulärste hat man 1443 beim Bau des Stephansdoms gefunden. Der Oberschenkelknochen eines Mammuts wurde als Überrest eines Riesen interpretiert und mit der Jahreszahl sowie dem Wahlspruch Kaiser Friedrichs III. - A.E.I.O.U. - beschriftet. Noch Anfang des 18. Jahrhundert beschrieb der Historiker und Theologe P. Matthias Fuhrmann zwei "Original-Zähne" des Riesen vom Thury (Wien 9), bei dem es sich wohl auch um ein Mammut handelte. Erst ab der Jahrhundertmitte begann die wissenschaftliche Arbeit der Paläontologen und Geologen. Ein namhafter Vertreter war Gemeinderat Eduard Suess (1831-1914), dem Wien die Erste Hochquellenwasserleitung verdankt. Er gründete das geologische Institut der Universität Wien, seine Studie über den "Boden der Stadt Wien" war ein Meilenstein des Faches.
Die Geologen erkannten, dass bestimmte Fossilien auf bestimmte Gesteinsabfolgen beschränkt waren und leiteten daraus eine zeitliche Abfolge der Schichten ab. Die tiefste Schichte des Wiener Beckens zeigte eine große Artenvielfalt, wie sie in warmen Meeren vorkommt. Die Forscher nannten sie nach dem Kurort Baden bei Wien "Badenium". Mit den Methoden des 20. Jahrhunderts datierten sie es auf ein Alter von 14,5 bis 12,7 Millionen Jahren. Die meisten der im Buch beschriebenen Fundstätten stammen aus diesem Zeitabschnitt.
Die erste Exkursion führt nach Nussdorf (Wien 19), Der "geologische Glücksfall" befindet sich unweit der Endstation der Straßenbahnlinie D. Zu sehen ist der Rest einer 14 Millionen Jahre alten Felsküste. Der "Geologische Aufschluss" ist als Naturdenkmal mit der Nummer 439 geschützt. Das Sammeln ist verboten, "zudem gäbe es hier nicht viel zu entdecken". Die wenigen Muschel- und Schneckenschalen sowie Zähne von Meeresbrassen sind längst im NHM archiviert. Beim nahen "Grünen Kreuz" befand sich vor 14 Millionen Jahren ein Sandstrand. Seit dem Biedermeier ist es eine berühmte Fundstelle für Mikrofossilien. Die millimetergroßen Scheibchen geben Aufschlüsse über das damalige Meer. Heute findet man sie massenweise in Israel, der Türkei und Korfu. Nur vier Kilometer von Nussdorf entfernt, liegt am Unteren Schreiberweg in Grinzing eine "Auftriebszone", in der 65 Arten Muscheln und 168 Schneckenarten lebten. Das NHM verwahrt Tausende schraubenförmige Turmschnecken von hier.
In Pötzleinsdorf (Wien 18) bevölkerten vor 13 Millionen Jahren Kegelschnecken die Sandküsten. Die weißen Schalen sind gemustert und wirken im UV-Licht edel wie blau-weißes Porzellan. Doch die Schönheit täuscht. Als Fressfeind lähmt die Gattung Conus ihr Opfer mit Gift. Kegelschnecken, die heute in tropischen Meeren vorkommen, können Menschen gefährlich werden, da es kein Gegenmittel gibt. An Stelle der Ottakringer Brauerei (Wien 16) erstreckten sich vor 14 Millionen Jahren Seegraswiesen. Hier gab es Seekühe, von denen Ende des 19. Jahrhunderts Fossilien zweier junger Exempare gefunden wurden. Die weitschichtigen Verwandten der Elefanten mit nahezu unzerstörbaren schweren Rippen lebten im flachen Wasser.
Bei den Funden von Atzgersdorf (Wien 23) hat man es mit einem Alter von 12 Millionen Jahren zu tun. Die Steine dieser Gegend finden sich in den Fundamenten des Kunsthistorischen Museums, des NHM, der Votivkirche und der Hofburg. Bessere Qualitäten des Atzgersdorfer Schneckenkalksteins wurden beim Bau des Stephansdoms und der Minoritenkirche verwendet. Im nahen Kalksburg (Wien 23) baute man Ende des 19. Jahrhunderts Konglomerate und Kalkstein für die Aquädukte der Hochquellenwasserleitung im nahen Rodaun ab. Die Steinbrüche waren für ihren Reichtum an Fossilien bekannt. 1100 Stück lagern im KHM und noch viele mehr in der GeoSphere Austria und dem Universitätsinstitut für Paläontologie. Im Badenium belebten Gugelhupf-Seeigel und bis zu 20 m lange Megalodon-Haie die steinigen Meeresbucht.
"Die Tone in den Ziegeleien am Wienerbeerg, in Oberlaa und am Laaerberg in Favoriten waren unglaublich reich an Fossilien. … Zu ihnen gehört die überaus häufige Schwarzdeckelschnecke". Im NHM liegen mehrere Laden der Melanopsis vindobonensis. Unweit der "Löwygrube" (Wiener Naturdenkmal Nr. 704) wuchs am Laaerberg dichter Auwald. Hier wurden 10,2 Millionen Jahren alte Traubenkerne entdeckt - ein Beweis, "dass in Wien der Wein weit älter ist, als der Mensch". (Homo sapiens ist rund 300.000 Jahre alt.)
In der Gegend des Belvederes (Wien 4) bevölkerten Hauerelefanten den Auwald . "Das Dinotherium erreichte eine Schulterhöhe von über fünf Metern. … Die Zähne wuchsen aus dem Unterkiefer und waren hakenartig nach unten geneigt" Gegen Ende von dessen Epoche vor 10 Millionen Jahren war das Wollhaar-Mammut fast ein Babyelefant. Es lebte vor 200.000 Jahren. beim Bau des Burgtheaters tauchte ein Zahn auf, ein anderer sorgte 2023 beim U-Bahn-Bau hinter der Universität für Sensationsmeldungen.
Solcherart in der Gegenwart angelangt, erhebt sich die Frage nach der Zukunft des Planeten. In 200 Millionen Jahren würden sich die Kontinente wieder zu einem Großkontinent vereinen, meinen die Geologen. "Vor 250 Millionen Jahren, als es mit dem Großkontinent Pangäa bereits eine ähnliche Situation gab, schossen die Jahresdurchschnittstemperaturen auf über 40 °C. Für das meiste Leben wird Pangäa Ultima, so heißt der Großkontinent der Zukunft bereits, das Ende bedeuten … So gesehen nichts'Neues'. Nix ist fix, alles dreht sich, bewegt sich und geht im ewigen Perpetuum mobile weiter."