Wir freuen uns über jede Rückmeldung. Ihre Botschaft geht vollkommen anonym nur an das Administrator Team. Danke fürs Mitmachen, das zur Verbesserung des Systems oder der Inhalte beitragen kann. ACHTUNG: Wir können an Sie nur eine Antwort senden, wenn Sie ihre Mail Adresse mitschicken, die wir sonst nicht kennen!

unbekannter Gast

J. Kalmár, E. Bruckmüller, R. Linke, Ch. Mayer: Verschwundenes Industrieviertel#

Bild 'Kalmar'

János Kalmár, Ernst Bruckmüller, Reinhard Linke, Christoph Mayer: Verschwundenes Industrieviertel . Über Greißler und Wirtshäuser, Industrie- und Gewerbebetriebe, Hotels und Pensionen, die es nicht mehr gibt . Edition Winkler-Hermaden Schleinbach. 140 S., ill., € 28,90

"Viel ist hingesunken uns zur Trauer und das Schöne zeigt die kleinste Dauer". Doderers Vers drängt sich bei der Lektüre der "Verschwundenes"-Reihe auf. Im dritten Band relativieren ihn die Autoren: "Nicht allem, was es nicht mehr gibt, muss nachgeweint werden." Doch "anders als bei alten Bauern- und Bürgerhäusern, Schlössern, Kirchen und Kapellen ist die emotionale Verbundenheit mit dem Erbe des Industriezeitalters offenbar nicht besonders ausgeprägt. Selbst hochinteressante Industriebauten oder industrielle Ensembles wurden ohne weiteres geschleift", schreibt Ernst Bruckmüller. Nur manche hatten das Glück, geschützt, restauriert oder revitalisiert zu werden. Beispiele sind die ehemalige Tabakfabrik - jetzt "Kulturfabrik" - in Hainburg, das barocke Adlertor der Nadelfabrik bei Lichtenwörth oder Teile der "alten Tuchfabrik" in Pottenstein, wo die Landesausstellung "Magie der Industrie" stattfand.

Das Industrieviertel oder "Viertel unter dem Wienerwald" ist der südlichste Teil Niederösterreichs. Auf 4200 m² leben in 170 Gemeinden 655.000 Menschen. In den letzten 250 Jahren wurde hier Industriegeschichte geschrieben. Schon im 14. Jahrhundert bestanden Glashütten im Wienerwald, im 15. Jahrhundert Eisenhämmer, wie in Pottenstein. Der große Schub erfolgte im Merkantilismus ab etwa 1700. Gewerblich-industrielle Gründungen sollten die Volkswirtschaft beleben. Die privilegierten Fabriken waren vom Zunftzwang befreit und beruhten auf dem Verlagssystem. HeimarbeiterInnen erhielten Material zum Verarbeiten, die Endfertigung fand in den Manufakturen statt. Die Schwechater Baumwollmanufaktur war eine der größten. Die Industrialisierung nahm in Potttendorf ihren Ausgang. 1801 engagierte ein Konsortium adeliger und bürgerlicher Kapitalisten den englischen Techniker John Thornton, der die erste große mechanische Spinnerei Kontinentaleuropas einrichtete. Nach einem Jahrzehnt hatte sie bereits 1800 Beschäftigte. Die 1833 gegründete und 1978 geschlossene Vöslauer Kammgarnspinnerei wurde zum größten Arbeitgeber Österreichs. In den 1830er Jahren lösten Dampfmaschinen die Wasserkraft als Energielieferant ab. Bis 1914 dauerte "der große Aufschwung", auch der Metall verarbeitenden Industrie, schreibt der renommierte Historiker Ernst Bruckmüller. Wie der Kulturpublizist Reinhard Linke und der Museumsmanager Christoph Mayer begab er sich auf die Spuren des industriellen Erbes im Viertel unter dem Wienerwald.

Mit dem auf kulturhistorische Themen spezialisierten Bildautor János Kalmár waren sie unterwegs zwischen dem Wienerberg und Gloggnitz. Mödling, Traiskirchen, Baden, Pottendorf, Wiener Neustadt, Neunkirchen, Ternitz, im Semmeringgebiet, der Buckligen Welt und dem Bezirk Bruck an der Leitha. Die Textautoren behandeln Krisen und Kriege, Handel und Gewerbe (Ernst Bruckmüller), Gastronomie, Nahversorger, Post und Bank (Christoph Mayer) und Wiener Neustadt mit seiner Industrie und dem Wiener Neustädter Kanal (Reinhard Linke).

"Seit dem frühen 19. Jahrhundert erprobte man auf der Haide zwischen Fischa und Piesting neue Formen von Geschossen (Raketen). In der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts entstand bis Wiener Neustadt ein 'Rüstungscluster', stellt Ernst Bruckmüller fest. "Handel und Gewerbe prägen eine Region" schreibt er und zeigt, dass das Bild des Verfalls des Gewerbes nicht durchgehend zutrifft. Handel und Gewerbe bilden die größten Branchen (nach Beschäftigten) im Industrieviertel Allerdings sind regionale Unterschiede und ein erheblicher Strukturwandel festzustellen. "Der Gewerbetreibende von heute ist kunden- und marktorientiert, während der klassische 'alte' Handwerker mit stabilen Kundenkreisen … rechnen konnte. Auch die Betriebsstätten ändern sich. Traditionell waren Handwerks- und Gewerbebetriebe mit dem Wohnort der Gewerbeausübenden verbunden. Das ist nur mehr ganz vereinzelt so."

Chistoph Mayer fragt: "Wie geht es der heimischen Gastronomie?" Er konstatiert: "Das klassische Wirtshaus ist am Scheidepunkt" und findet als positives Beispiel einen bodenständigen Wirt in Traiskirchen. Auch der Interessensvertreter hat Sorgen mit Energiekosten und Personalmangel, doch meint er: "Es is einfach ein schöner Beruf." Der Bildteil dieses Kapitels stimmt nostalgisch. Er zeigt das 1882 eröffnete Südbahnhotel auf dem Semmering mit seinem luxuriösen Saal. Fallweise für Veranstaltungen genutzt, gibt es seit Jahren nur Pläne, den Hotelbetrieb wieder aufzunehmen. Der 1909 eröffnete Jugendstil-Stahlbetonbau des Kurhauses beherbergt schon lange keine Gäste mehr, doch bestehen konkrete Revitalisierungspläne als "Grand Semmering". Mayers zweiter Beitrag widmet sich den Nahversorgern, Post- und Bankfilialen. Auch hier ist der Rückgang unübersehbar. "Sperrt der letzte Greißler einer Gemeinde zu, so ist es vielerorts sehr schwierig, eine Nachfolge zu finden, geht damit oft der wahre Ort des Gemeindegeschehens verloren." Ebenso sinkt die Zahl der Postämter und Bankfilialen.

Reinhard Linke stellt den Wiener Neustädter Kanal - ein einzigartiges Industriedenkmal seit mehr als 200 Jahren - und die Geschichte von Wiener Neustadt als "Stadt der Lokomotiven, Autos und Flugzeuge" vor. Der Wiener Neustädter Kanal "erstreckt sich auf einer Länge von 36 km zwischen Wiener Neustadt und Guntramsdorf, weist einen Höhenunterschied von 86 m auf, verfügt über sieben große Aquädukte und 38 Schleusenbauwerke, 17 Brücken führen über den Kanal." Baubeginn war 1797, Eröffnung 1803. Es gab organisatorische, bautechnische und damit finanzielle Probleme. Letztlich kam das Projekt zu spät und wurde von der Eisenbahn überrollt. Anfangs schien der Wasserweg unschlagbar. Mit einem Pferd konnte man 30 mal mehr Güter transportieren als auf der Straße und brauchte nur drei Mann Besatzung. Ein rund 23 m langes und 2 m breites Schiff war mit 4 km/h unterwegs. 1879 endete die planmäßige Schifffahrt auf der "Lebensader des Industrieviertels." Die wenigen erhaltenen Bauobjekte des ältesten Industriedenkmals Österreichs stehen unter Denkmalschutz. Teile des, in Landesbesitz stehenen, Kanals spielen noch eine Rolle in der Wasserwirtschaft und im Umweltschutz.

Wiener Neustadt ist die zweitgrößte Stadt Niederösterreichs, Statuarstadt, Verwaltungssitz und Standort der ältesten Militärakademie der Welt. Die erste systematische Betriebsansiedlung geht auf das 17. Jahrhundert zurück. Ende des 18. Jahrhunderts entstanden Textilmanufakturen, eine Zuckerfabrik und eine Unternehmen für Hafnerwaren. 1837 begann in Österreich das Zeitalter der Dampfeisenbahn. Vier Jahre später fuhren Züge bis Wiener Neustadt, 1842 wurde die Lokomotivfabrik gegründet und um 1870 vom Wiener Industriellen Georg Sigl mit großem Erfolg geführt. Das deutsche Automobilunternehmen Daimler wählte 1899 Wiener Neustadt als Produktionsstätte. Ferdinand Porsche war offenbar seiner Zeit voraus, als er vor dem ersten Weltkrieg erfolglose Versuche mit Kleinwagen anstellte. Er verließ 1923 das Unternehmen, das zehn Jahre später diesen Standort schloss. Wiener Neustadt wird als "Wiege der Österreichischen Luftfahrt" bezeichnet. 1909 begannen Igo Etrich und Karl Illner mit Flugversuchen: "Als nun Illner mit dem Aeroplan aus der Halle herausfuhr, erhob sich der Apparat ganz unvermutet und machte einen Luftsprung von 40 Metern", berichtete eine Zeitung. Wegen ihrer Rüstungsindustrie war die Stadt Ziel von 29 Luftangriffen, die rund 1400 Menschen töteten. Zwei Drittel der Häuser und 70 Prozent der Industriebetriebe wurden zerstört. "Bis zum Staatsvertragsjahr 1955 war der Wiederaufbau im Wesentlichen abgeschlossen. In der Stadt wurden in den Jahren danach neue Akzente gesetzt." In den 1970er Jahren hat man das Portal der Wiener Neustädter Lokomotiv-Fabrik restauriert. Es gilt als eines der wichtigsten Industriedenkmäler der Stadt. Zu Recht ziert es den Umschlag des äußerst empfehlenswerten Buches "Verschwundenes Industrieviertel".

hmw