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Claudia Lingenhöl: Kleinbauten der Stadt Wien#

Bild 'Lingenhöl'

Claudia LINGENHÖL: Kleinbauten der Stadt Wien. Hg. vom Bundesdenkmalamt. Böhlau Verlag Wien. 284 S., ill., € 49,-

Kleinbauten, auch Stadtmobiliar oder Straßenmöbel genannt, sind kleine Zweckbauten im öffentlichen Raum. Meist handelt es sich um eingeschossige Solitärbauten, die an einem ausgewählten Ort im Stadtraum für einen speziellen Zweck errichtet werden. Ihre große Zeit war das 19. Jahrhundert. Als die Städte wuchsen, die Einwohnerzahlen stiegen, technische Innovationen und neue Anforderungen entstanden, wurden die Straßen zur "Wohnung des Kollektivs" (Walter Benjamin). Diese Wohnungen sollten möbliert werden. In England, wo die Industrialisierung zu einem rasanten Wandel führte, und in europäischen Städten wie Paris, Hamburg, Zürich, Berlin und auch Wien änderte sich das Stadtbild. Zweckbauten, oft auch kombiniert, entstanden als Wartehallen bei Straßenbahnstationen, als Bedürfnisanstalten und Kioske, dazu Objekte wie öffentliche Uhren, Litfasssäulen, Straßenlaternen oder Wetterhäuschen.

Diesen zu Unrecht kaum beachteten "Einrichtungsgegenständen" hat Claudia Lingenhöl von der Abteilung "Bauen im Bestand" der TU Wien ihre Diplomarbeit und dieses Buch gewidmet. Unter dem Titel "Großstadt und Kleinbau" beschäftigt sich die Autorin anfangs mit der Entwicklung Wiens vom ausgehenden 18. bis zum beginnenden 20. Jahrhundert. Lange beschränkte sich das Gebiet auf die heutige Innere Stadt mit 2,2 km Durchmesser und 55.000 Einwohnern. "In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts führte die zunehmende Industrialisierung zu einem enormen Anstieg der Bevölkerung und somit zu einer regen Bautätigkeit. … 1830 hatten sich die Bevölkerungszahlen auf rund 265.000 Menschen annähernd verdoppelt." 1859 genehmigte Kaiser Franz Joseph den Grundplan zur Stadterweiterung. Anstelle der historischen Befestigungsanlagen entstand die Ringstraße als Boulevard und Verkehrsader. Damit einher ging eine moderne technische Infrastruktur mit Einrichtungen wie Gaskandelabern, Bedürfnisanstalten, Kiosken und öffentlichen Uhren. "Ab 1893 wurde der Linienwall abgetragen und die bereits in den 1860er Jahren außerhalb der Stadtgrenze angelegte Gürtelstraße ausgebaut." Bis 1901 war Otto Wagners Gesamtkunstwerk der Stadtbahn abgeschlossen. Nach der Eingemeindung der Vorstädte, Vororte und Dörfer jenseits der Donau umfasste Wien mehr als 257 km² und erreichte mit knapp 2 Mio. einen historischen Bevölkerungshöchststand. "Innerhalb eines Jahrhunderts war Wien zu einer Weltstadt geworden, die in der Weltstatistik der Großstädte aus dem Jahr 1914 nach London, New York, Paris, Berlin, Chikago, St. Petersburg und Tokio an achter Stelle stand."

In den 20er Jahren des 19. Jahrhunderts kamen mit den Pferdeomnibussen die ersten öffentlichen Verkehrsmittel auf, 1852 in New York Pferdestraßenbahnen. Anfangs hatten sie keine fixen Haltestellen. Als sich diese durchsetzten, brauchte man Unterstände für die wartenden Passagiere. In Wien fuhr 1865 die erste Pferdetramway vom Schottentor nach Hernals. Wartehallen entstanden vermutlich in den 1870er Jahren, zunächst am Kärntner Ring. Sie waren 8 m lang, 1,50 m breit und 3 m hoch. Die zart gegliederten Eisenskelettbauten hatten große Fenster und mit Ornamentbändern geschmückte Walmdächer. "Im Jahr 1910 besaß die Stadt Wien das mit über 200 Betriebskilometern ausgedehnteste Straßenbahnnetz der Welt." Nach Entwürfen des Otto-Wagner-Schülers Christoph Ernst entstanden zahlreiche Wartehallen. Heute existieren nur noch drei vor dem Ersten Weltkrieg gebauten Exemplare, sie stehen im 2., 3. und 17. Bezirk. Über die Modelle der Zwischenkriegszeit ist wenig bekannt. Teilweise waren sie großflächig verglast und flach gedeckt. In den 1950er Jahren verwalteten die Wiener Stadtwerke-Verkehrsbetriebe 65 Straßenbahn-, Stadtbahn- und Buslinien mit 661 Haltestellenpaaren. Einige der neuen Wartehallen waren Kombinationen mit Trafiken, Kartenvorverkaufsstellen oder Telefonzellen. Diese multifunktionalen Kleinbauten sind inzwischen verschwunden, ebenso die in den 1960er Jahren aufgestellten Wartehäuschen. Ab den 1970er Jahren errichtete das städtische Ankündigungsunternehmen Gewista hunderte sechs bis acht Meter lange Wartehallen. Ende 2017 bestanden 1126 City Light-Unterstände, dazu 713 Plakat-Wartehallen. Die Gemeinde Wien verwaltete nur noch 17. "Das Interesse der Wiener Linien am kostspieligen Erhalt älterer, nicht für Werbezwecke nutzbarer Wartehallen scheint dementsprechend gering zu sein. … Unter Denkmalschutz stehen derzeit nur fünf Exemplare. " Jedem ihrer Schwerpunktkapitel hat die Autorin einen informativen Bildteil angefügt. Er charakterisiert typische Beispiele, und stellt sie in historischen und aktuellen Fotos im Umfeld und Detail, sowie Plänen vor. Ein knappes Kurzinventar ergänzt die Bilder.

Das nächste Kapitel beschäftigt sich mit öffentlichen Bedürfnisanstalten, für die vor dem 19. Jahrhundert offenbar kein Bedarf bestand. "Wobei die von Frauen nutzbaren größeren und somit kostspieligeren Anstalten auch aufgrund der männlichen Dominanz in den Reihen der Entscheidungsträger häufig erst 15 bis 20 Jahre nach den ersten Pissoirs entstanden." Wien lag im Vergleich der europäischen Städte lang zurück. "So wurden im Jahr 1846 zwei 'Straßen-Retiraden' aufgestellt. … 1863 gründete der Gemeinderat eine eigene Kommission, die … Standorte … vorschlagen sollte. … Trotz stetiger Bemühungen gab es im Jahr der Wiener Weltausstellung 1873 in der gesamten Stadt erst 125 Pissoirs und nur wenige Aborte. Ein erneuter Ausbruch der Cholera verdeutlichte die Dringlichkeit einer endgültigen Lösung der sanitären Probleme der Stadt." Abhilfe schuf die Initiative von Wilhelm Beetz, "durch die Wien eine europaweite Vorreiterrolle auf dem Gebiet der öffentlichen Hygiene erlangte." Die Holzriegelbauten nach Berliner Vorbild waren von den Schmalseiten von den Damen respektive Herren zu betreten. Sie hatten, getrennt durch den zentralen Wärterinnenraum je drei Kabinen, jeweils zwei der I. (mit Waschbecken) und eine der II. Klasse. Auch für die Errichtung von "Wiener Pavillon-Pissoirs", für die er ein Patent erlangte, erhielt der deutsche Kaufmann einen günstigen Vertrag mit der Stadt. Der Bildteil bietet einen Überblick über mehr als 30 zwischen 1884 und 1987 errichteten öffentlichen Toiletten Wiens.

Das aus dem Persischen stammende Wort Kiosk bezeichnete Gartenpavillons. Die Bedeutung wandelte sich als "leichte, aus Holz oder Eisen und Glas errichtete Bauten in den Straßen der Großstädte, die zum Verkauf von Zeitungen, Erfrischungen, Cigarren u. dergl. dienen." (Brockhaus, 1894) In Wien gab es sie seit den 1860er Jahren vor allem in den Straßen als Tabaktrafiken, später in Parks als Milchtrinkhallen. Daneben entstanden besonders in der Zwischenkriegszeit "viele weitere Konsum-Kleinbauten mit unterschiedlichem Angebot." Die meisten sind verschwunden oder - oft als Würstelstand oder Eissalon - umfunktioniert worden. Der Bildteil zeigt ausgewählte Beispiele, wie die Milchtrinkhalle im Kongresspark oder die passend historistisch gestaltete Trafik bei der Rossauer Kaserne. Seit Jahren leer stehend, doch restauriert, ist der Kiosk, wie die meisten der Kleinbauten, nicht denkmalgeschützt.

Im abschließenden Kapitel "Kleinbau und Denkmalpflege" widmet sich die Autorin, die Architektur und Kunstgeschichte studiert hatte, "den Denkmalwerten, den momentan zur Verfügung stehenden Instrumenten des Schutzes sowie dem aktuellen Umgang mit den einzelnen Kategorien aus der Perspektive der Denkmalpflege." Im Facit meint sie, dass der Wert der Objekte allzu oft nicht erkannt oder anerkannt wird. Der Denkmalschutz reiche häufig nicht aus, einen angemessenen Umgang mit ihnen zu garantieren. "Das Ziel dieses Buches ist es, einen Einblick ins Universum dieser 'bedeutsamen Belanglosigkeiten' zu eröffnen, ihre Fülle, Diversität, Qualität und Relevanz aufzuzeigen, um so das denkmalpflegerische Interesse und die Sorge um die häufig vergessenen Kleinbauten der Stadt Wien zu wecken." Der Schweizer Denkmalpfleger und Wiener Universitätsprofessor Nott Carviezel bekräftigt im Vorwort: "Möge die gelungene Kombination einer exemplarischen Bestandsaufnahme und eines kulturgeschichtlich interessanten Lesebuchs ebenso die Fachwelt wie ein breites Publikum ansprechen."

hmw