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Marion Wisinger. Goisern#

Bild 'Wisinger'

Marion WISINGER. Goisern. Eine erzählte Ortsgeschichte. Verlag Kremayr & Scheriau Wien. 208 S., ill. , € 26,-

2024 ist mit dem Salzkammergut erstmals eine ländliche Region Kulturhauptstadt Europas geworden. Das Salzkammergut umfasst drei Bundesländer, acht Tourismusverbände und 50 Gemeinden, 23 davon sind in das Programm involviert. Die oberösterreichische Marktgemeinde Goisern am Hallstättersee ist eine von ihnen. Das Buch von Marion Wisinger kommt da gerade recht. als "Associated Project of Europe an Capital of Culture 2024 | Salzkammergut."

Die Autorin hat bei ihrer "erzählten Ortsgeschichte" entscheidende Startvorteile. Die Historikerin mit familiären Beziehungen zu Bad Goisern lebt auch dort. So blieb ihr erspart, was Oral-History-Forscher oft zur Verzweiflung treibt: das mangelnde Zutrauen ihrer InterviewpartnerInnen. Auch literarisch bewegt sich die Vizepräsidentin des Österreichischen PEN-Clubs auf vertrautem Terrain. Als Motto durchzieht ein Gedicht des deutschen Schriftstellers und Grafikers Christoph Meckel ihr Buch: "Das Haus gehört uns, aber wir kennen es nicht."

Marion Wisinger kennt Goisern seit der Zeit, als ihr Urgroßvater dort Bäcker war. Im Prolog stellt sie das Tal ihrer Kindheit vor, sehr persönlich und sehr kritisch: "Zeitgeschichte wurde durch atmosphärische Mythen ersetzt. Sozialgeschichte durch Brauchtumspflege. Die Bewohner des Orts verdrängten ihre Geschichte. Sie schliffen und bogen sie zurecht. … Die Heimatforscher verliehen der Gegend die Patina aus Salz und Holz." Dem gegenüber setzt sich die Autorin seit langem mit Erinnerungskultur und Aufarbeitung der von der Gesellschaft vergessenen Geschichte auseinander.

Sie beginnt das Buch mit dem Dezennium 1900 bis 1910. Damals gab es im Gemeindeamt nur eine Schreibmaschine, der Sekretär wurde mit dieser und dem neuen Telefon in ein eigenes Zimmer verbannt. Autos und Hochräder eroberten die Straßen. Innerhalb weniger Jahre wunde Goisern ein Wintersportort mit Rodelbahnen und Skipisten. Die Holzbringung, von der viele Bewohner gelebt hatten, hatte Konkurrenz erhalten, seit die Eisenbahn 1877 Braunkohle zum Betrieb der in die Pfannhäuser brachte. Auch die Arbeitswelt der Salzschiffer und Traunreiter änderte sich. "Längst hatte die Arbeiterbewegung in Goisern Fuß gefasst und zur Selbsthilfe gegriffen. Durch den Bergbau und eine organisierte Arbeiterschaft gab es eine richtiggehende Tradition gemeinsamer Interessensvertretung gegen die Obrigkeit." Ihr Grundgedanke war "Durch Bildung zur Freiheit." Die angeordnete Begeisterung zum 60-jährigen Regierungsjubiläum Kaiser Franz Josephs hielt sich in Grenzen. Besonders die evangelischen Bewohner, die hier immer wieder eine große Rolle spielten, zeigten sich habsburg-kritisch.

Sie sollten im und nach dem Ersten Weltkrieg Recht behalten. "Der Krieg kam nie nach Goisern, doch Goisern war mitten im Krieg. … Das weltumspannende Sterben lag wie ein leises Dröhnen in der Luft". Der Ortschronist und Amtsleiter Franz Laimer "schrieb behutsam, um seine Leserschaft zu erreichen. … Die von Herrschaft, Arbeitslosigkeit, Armut und Kriegen betroffene Gesellschaft sollte verstehen, was ihr über Jahrhunderte geschehen war", lobt die Autorin die Arbeit des Gemeindebediensteten. "Vieles von dem, was Franz Laimer begegnete, hat noch heute Bestand."

Armut kennzeichnete die Jahre 1918 bis 1933. Konflikte zwischen Bauern und der hungernden Bevölkerung waren die Folge. Es kam zu Diebstählen, Plünderungen und Aufmärschen. Der ehemalige Forstarbeiter Ignaz Peer verfasste 1926 "Eine sozialistische Dorfgeschichte". 1919 bis 1934 amtierte er als Bürgermeister. "In verschiedenen Lebensregeln gesund konservativ, war er so, wie es heute noch viele Goiserer geblieben sind", charakterisierte ihn der Ortschronist und Marion Wisinger bekräftigt: "ein Goiserer Rebell eben.". Ihr Großvater, der Bäckergehilfe Leopold Wisinger wurde 1921 zum Auswanderer. Der musikalische junge Mann schloss sich einer internationalen Operetten-Kompanie an, deren Welttournee drei Jahre dauern sollte. Sie endete nicht so glücklich, wie erwartet. Der Bäcker aus Goisern landete in Java und lernte holländisch. In Surabaya, jetzt die zweitgrößte Stadt Indonesiens, damals unter holländischer Herrschaft, besann sich der Auswanderer auf seine Profession, buk Krapfen und schickte Angestellte mit Wägelchen voller frischer Mehlspeisen durch die Stadt. Er eröffnete eine Brotfabrik, eine "Wiener Bakkerij" und war bei der guten Gesellschaft beliebt. Nach zehn Jahren in den Tropen und einer Zeit in Paris kehrte er - als "Privatier" nach Goisern zurück. Dort hatten sich indessen der Fremdenverkehr und eine neue Freizeitkultur etabliert. "Doch Goisern blieb ein Dorf. Immerhin wurde es 1931 zum Heilbad- und Luftkurort ernannt. "

"Bereits Ende der 1920-er Jahre war im Salzkammergut die judenfreie Sommerfrische gefordert worden." Der Antisemitismus breitete sich aus. Vertreibung und Arisierung sollten folgen. Über den Putsch der Nationalsozialisten 1934 konnte man in der Salzkammergutzeitung lesen: "Besonders stark waren die Aufständischen in Goisern zusammengerottet. Es trafen sich dort Nazi aus Hallstatt. Gosau und Goisern, ca. 250 Mann stark." Die Autorin ergänzt. "Unter der Führung von Felix Urstöger zogen die Putschisten durch den Ort, besetzten den Bahnhof, den Gendarmerieposten, das katholische Schülerheim Stephaneum (wo der Vater der Rezensentin gerade als Elfjähiger die Ferien verbrachte), die Post, Wohnungen und das Gemeindeamt. In diesen Räumlichkeiten arretierte man zahlreiche Personen, um sie von den Kämpfen fernzuhalten. Es folgten unkoordinierte Aktionen."

"Die Machtübernahme" leitet das Kapitel "1938 bis 1945" .ein. "Es ist erstaunlich, wie sich alles von selbst ergab. Die Choreografie der Machtübernahme vollzog sich nahezu reibungslos. Polizei und Gendarmerie liefen über, es kam zur sofortigen Schlüsselübergabe des Gemeindehauses und der neue Bürgermeister trat sein Amt an." In der Folge schreibt Marion Wisinger über "Goisern im Nationalsozialismus", "Kriegsbeginn und erste Gefallene", "Ostarbeiter und Kriegsgefangene", "Über Menschen, die man fortbrachte", "Was im Feindesland geschah", Widerstandsbewegung und Kriegsende. Goisern hatte 273 Gefallene zu beklagen.

Seit 1997 ist Goisern Teil des UNESCO-Welterbes "Hallstatt-Dachstein-Salzkammergut", laut Begründung "ein außergewöhnliches Beispiel einer Naturlandschaft von einzigartiger Schönheit und wissenschaftlicher Bedeutung, … die auch Zeugnis von der frühen und kontinuierlichen menschlichen, wirtschaftlichen und kulturellen Tätigkeit ablegt."

hmw