Martin Neid - Bernd Pommer: Randständig#
Martin Neid: Randständig. Geschichten über das Weinviertel, von Kaffeehäusern und von Begegnungen, die Spuren hinterlassen haben. Mit Fotografien von Bernd Pommer. Edition Winkler-Hermaden. Schleinbach. 126 S., ill., € 26,90
Es ist schon bemerkenswert, dass sich ein Jurist und ein Mediziner aus unterschiedlichen Lebenswelten als winning team zusammenfinden. Martin Neid, geboren 1950 in Obersdorf im Weinviertel, war Rechtsanwalt in Wolkersdorf (Niederösterreich). Bernd Pommer, geboren 1949, war Neurologe in Zell am See im Pinzgau (Salzburg). Martin Neid ist seit seiner Jugend schriftstellerisch und schauspielerisch tätig. Sein in der Edition Winkler-Hermaden erschienene Buch "Na ja … und andere Weinviertler Seufzer" erreichte zehn Auflagen. Bernd Pommer beschäftigte sich schon als Student mit der Schwarz-Weiß-Fotografie. Professionalität in dieser "Königsdisziplin" erwarb er in der Prager Fotoschule und veröffentlichte mehrere Fotobände, u.a. über New York.
Kennengelernt haben sie sich bei einer Lesung des Textautors im Weinviertel. Das Vorwort zu ihrem gemeinsamen Werk ist eine Kostprobe der - nicht nur - launigen Texte: Der Weinviertler mit Bergphobie besuchte Zell am See, wo ihm der neu gewonnene Freund die Schönheit der Bergwelt eröffnete. Bald darauf streiften die beiden auch gemeinsam durch das Weinviertel. Unerwartet fanden die Akademiker, was sie suchten: Orte ohne Verletzungen durch die Menschen, Stille, Kargheit, Ereignislosigkeit, also Schönheit.
Der Unterschied zwischen den Heimatorten könnte kaum größer sein. Die Stadt Zell am See ist einer der bedeutendsten Wintersportorte Österreichs, nur 30 km vom höchsten Berg des Landes, dem 3800 m hohen Großglockner, entfernt. Obersdorf (bis 1971 selbstständiges Dorf), eine Katastralgemeinde des zentralen Ortes Wolkersdorf im Industriezentrum Niederösterreich Nord, blieb lange Zeit "randständig". Am Rand tut sich nicht viel. Meist ist es ruhig. Die Sucht, Ordnung zu halten, erlahmt. Der Rand ist eine Oase für Unkraut. Das Weinviertel war die längste Zeit am Rand. Am Rand einer großen Stadt. … Kein unbezwingbares Gebirge hat je Eroberer ferngehalten. Seine sanften Hügel gewähren schöne Aussicht, aufhalten können sie niemanden. Nicht einmal den Fortschritt.
Das Buch ist eine Art Abgesang. Die stimmungsvollen Schwarz-Weiß-Fotos verstärken den Eindruck, dass hier etwas Wertvolles in Schönheit stirbt. Die Texte gliedern sich in zwei Abschnitte, einen längeren elegischen und einen kürzeren eher heiteren. Manche Kapitel überschreiten die Grenzen des Weinviertels. Obwohl es auch dort Kaffeehäuser gibt, die mit dem Auge des Fotografen gesehen, in der Wiener Innenstadt sein könnten, befinden sich solche Orte, die Welt zu vergessen, meist in größeren Städten. Meinen Kaffeehauslieblingen in Wien, Prag, Znaim und im Weinviertel sagte ich literarisch Danke, schreibt Martin Neid. Für ein Kind vom Land bin ich sehr früh in die Welt der Kaffeehäuser eingetreten und habe sie bis heute nicht mehr verlassen. Kaffeehäuser markieren meinen Lebenslauf. Berufsbedingt war das "Operncafé" nächst dem Handelsgericht in der Wiener Riemergasse ein gerne besuchter Aufenthaltsort. Das Gericht ist längst in das "Monstrum Justiz-Tower" übersiedelt. Das Operncafé gibt es noch immer. … Es gibt das Gerücht, dass bei den Lieblingssängerinnen des Patrons das Personal die Anweisung hat, die Arbeit zu unterbrechen. Solange Maria Callas singt, darf nicht serviert werden.
In Prag ist das Café Slávia eine beliebte "Labestation", einst ein Geheimtipp, nun von Touristen gestürmt. Weitgehend unbekannt geblieben ist der - nur zwei Kilometer von der Staatsgrenze entfernte - jüdische Friedhof von Safov. Anders als beim ersten Besuch des Autors vor Jahren gibt es sogar ein Hinweisschild. Seinerzeit musste er Ortsbewohner nach dem Weg fragen. Sie schickten ihn absichtlich in die falsche Richtung, und da er dies durchschaute und in die andere Richtung ging, fand er den gesuchten Ort. Nie werde ich den Augenblick vergessen, als er plötzlich vor mir lag. Lange, ganz lange, konnte ich mich nicht von der Stelle rühren, wie gelähmt. So schön, so schön traurig lag er vor mir.
Von unfassbarer Schönheit erlebte der Verfasser Anfang der 1970er Jahre die mittelalterliche Basilika in Vézelay. Dass diese auch für den Fotografen ein sprachlos machendes Wunder ist bekräftigte die neue Freundschaft der Autoren. In dem französischen Dorf war dem Jusstudenten damals Madame D. aufgefallen, die ein Ansichtskartengeschäft betrieb. Nach Jahren gelang es ihm, Kontakt zu der einst unnahbaren, weil vom Schicksal gezeichneten alten Dame zu finden. Auch sie ruht inzwischen in Frieden, ein französischer Friedhof, nicht beschädigt durch säuerliche Strenge und Ordnung wie viele unserer Friedhöfe.
Wie erwähnt, sind die ersten drei großen Kapitel - übertitelt Randständig, Berührungen und Der Ort, die Welt zu vergessen eher melancholisch. Das mag mit der Biographie des Autors zusammenhängen, der seinen Lesern rät: Wenn Sie es lieber heiter hätten: Die sonnigeren Texte finden Sie im Kapitel "Wetterleuchten". Dort erzählt Martin Neid Geschichten aus den letzten Jahren seines Berufsalltags, vom Familienleben und den Niederungen des Weinviertels. Was aber keine Abwertung des Viertels bedeutet, sondern das Gegenteil. Man erfährt einiges über die Mentalität seiner BewohnerInnen, wie Alzheim im Weinviertel - wobei die Schläue einer Bäuerin über die Routine einer Krankenkassen-Prüferin siegt. Oder wie der Chef eines örtlichen Fußballclubs seine Spieler für ein Turnier buchstäblich auf den Dorfstraßen zusammenfängt. Für den Club endet dieses mit dem 4. von 6 Plätzen. Trotzdem gab es einen Pokal und alle waren glücklich. Köstlich geschildert, erscheint die ungleiche Mannschaft vor dem geistigen Auge der Leser. Ebenso die Schülerin, die ihr Zeugnis dem Ofen im Klassenzimmer überantwortet, was sogar den erfahrenen und altersmilden Lehrer fassungslos macht. Oder auch das Chaos, das bei der ersten Filmvorführung im Pfarrhof ausbrach, weil Hochwürden den Film nicht richtig auf der Leerspule fixiert hatte.
Das letzte Kapitel widmet Martin Neid seinem Verleger, was den Autor zu einem Wortspiel veranlasst: Nur verlegene Verleger verlegen Bücher verlegen. Es ist ein Glück für die verlegten Autoren, wenn der Verleger verlegen ist, wenn er seine Bücher vorlegt. Denn nur verlegene Verleger verlegen Bücher, die den Leser nicht hineinlegen. Bücher, die den Leser nicht in Verlegenheit bringen, sie bei Gelegenheit wegzulegen … Zu diesen zählt das Buch "Randständig". Es ist originell und regt doch zum Nachdenken an. Die großartigen Fotos von Bernd Pommer tragen wesentlich zur meditativen Stimmung bei.