Danielle Spera (Hg.): Bewegte Zeiten#
Danielle Spera (Hg.): Bewegte Zeiten. Erinnern für die Zukunft. 1945-2025. Fotos von
Ouriel Morgensztern. Amalthea Verlag Wien. 272 S. ill., € 40,-
2025 ist ein Jubiläumsjahr für Österreich: 80 Jahre Ende des Zweiten Weltkriegs (1945), 70 Jahre Staatsvertrag (1955), 30 Jahre EU-Beitritt (1995). Auch die Flüchtlingskrise 2015 markierte einen Wendepunkt. Daniella Spera, bekannt als langjährige ORF-Redakteurin (1978-2010) und Leiterin des Jüdischen Museums Wien (2010-2022) hat nun das erste Werk verfasst, das die prägenden Phasen der österreichischen Nachkriegsgeschichte miteinander verbindet. Der Schwerpunkt liegt auf Niederösterreich.
Für Landeshauptfrau Johanna Mikl-Leitner ist Erinnern für die Zukunft aber nicht nur Ziel und offizielles Motto des Bundeslandes im Jahr 2025, sondern, wie sie in der Einleitung schreibt, ein persönliches Anliegen. Denn wenn wir in die Vergangenheit zurückblicken, dann ist dieses Erinnern kein Selbstzweck. Wir erinnern uns an die Geschichte, weil sie Kraftquelle für den Weg nach vorne ist, ist die Wirtschaftspädagogin und frühere Innenministerin überzeugt. Gemeinsam, mir Kopf, Herz und Haltung können wir vieles schaffen. Jetzt kommt es darauf an, diesen Weg mutig weiter zu gehen.
Die Herausgeberin Danielle Spera hat - neben Interviews, die den Kern des Buches ausmachen - das Vorwort und den Beitrag Mehr als Wein und Felder über Niederösterreichs Transformation zur Kultur- und Wissensregion verfasst. Den bisherigen Weg dorthin gliedert die Herausgeberin in vier Etappen: "Das Niederösterreich-Jahrzehnt Österreichs (1945-1955)" eingeleitet vom Historiker und ersten Direktor des Hauses der Geschichte im Museum Niederösterreich Stefan Karner, "Vom 'annus mirabilis' zum 'annus europaeus' (1955-1995) ", eingeleitet von der Zeithistorikerin Barbara Stelzl-Marx, "Am Scheideweg ? Österreich zur Jahrtausendwende (1995-2005)", eingeleitet vom wissenschaftlichen Leiter des Hauses der Geschichte im Museum Niederösterreich Christian Rapp, "Ohne die Geschichte zu kennen, ist die Zukunft nicht denkbar (2005-2025)", eingeleitet vom Juristen und Journalisten Gerhard Jelinek und "Zukunft denken in Niederösterreich", eingeleitet vom Trend- und Zukunftsforscher Tristan Horx.
Sein Ausblick erscheint besonders interessant. Das erste Stichwort ist Digitales. Tristan Horx schreibt: Initiativen wie das Haus der Digitalisierung in Tulln können Menschen berühren und auch Unternehmen fördern. … In diesem Zusammenhang ist eine generationenübergreifende Ansprache besonders wichtig Für Künstliche Intelligenz sieht er großes Potential in Niederösterreich: Zwei Bereiche, die in Niederösterreich besonders stark sind, die Landwirtschaft und die Fertigung, werden von den technologischen Innovationen der nächsten Jahre profitieren. Auch beim Thema Energie ist der Zukunftsforscher optimistisch für das Bundesland (Ohne die hunderten Windräder und Fotovoltaik-Anlagen explizit zu nennen): Veränderungen entstehen immer dort, wo neue Möglichkeiten entstehen, nicht dort, wo alte eingeschränkt werden. Für die Politik findet der Autor lobende Worte: Niederösterreich zeichnet sich im Vergleich zur Bundespolitik durch eine starke Kontinuität aus. Durch diese hat sich die Region nicht nur für die Gegenwart, sondern auch für die Zukunft gut positioniert. Zum Stichwort Regionalismus meint er: Studie um Studie belegt, dass die Konsumentinnen und Konsumenten Produkte aus der näheren Umgebung bevorzugen, wann immer es möglich ist. Und da geht noch mehr! Auch für das Zusammenleben der Generationen hat der Ideen: Um ein Kind zu erziehen, braucht man ein ganzes Dorf. Niederösterreich hat Dörfer. Jede Menge. … In der niederösterreichischen Politik gibt es eine Menge Weisheit, aber etwas zu wenig rebellisches Potenzial. Gesellschaften entwickeln sich dann gut, wenn man beides miteinander kombiniert. Für das Thema Arbeit gelte ähnliches: Niederösterreich wäre gut beraten, nicht nur die Industrie und das Agrarische zu erhalten, sondern auch das Neue und Flexible zu fördern. Auf dem Sektor der Bildung gehe das Land mit gutem Beispiel voran: Institutionen wie das Institute of Science and Technology Austria (ISTA) in Klosterneuburg oder die Fachhochschule St. Pölten zeigen, wie moderne Bildung und Weiterbildung funktionieren können. Was die Urbanisierung betrifft, ist der Forscher überzeugt, dass die Zukunft auf dem Land gemacht wird. Attraktiv werden die kleine und mittlere Stadt, Region oder Landschaft, die durch Weltoffenheit, Neugier, Lebendigkeit, Bürgersinn, Offenheit, Bildung und Kreativität eine eigenständige Zukunftspositionierung entwickelt. Das ist Zukunft, und das kann Niederösterreich.
Den Kern des Buches machen die mehr als 20 Interviews aus, die Danielle Spera mit Menschen geführt hat, die mit Niederösterreich verbunden sind. Zeitzeugen ebenso wie Vertreter der Generation Z. Die mit viel Empathie geführten Gespräche lassen Schicksale und niederösterreichische Familiengeschichten hautnah miterleben. Interview Partnerinnen waren der Industriekaufmann Robin Balogh, die Schriftstellerin Zdenka Becker, der frühere Geschäftsführer des Niederösterreichischen Pressehauses Herbert Binder, Staatssekretärin Brigitte Ederer, die Historikerin Barbara Glück, die Hotelière Elisabeth Gürtler, Bürgermeister Michael Häupl, ISTA-Präsident Martin Hetzer, Bundesschulsprecherin Mira Langhammer, die Ökologin Monika Langthaler, der Musiker Theo Lieder, die Kunstmanagerin Rita Nitsch, die Unternehmer Liselotte und Thomas Pfeiffer, Landeshauptmann Erwin Pröll, der Sportfunktionär Gunnar Prokop, der Arzt Fritz Rubin-Bittmann, Bundeskanzler Wolfgang Schüssel, Bischof Alois Schwarz, der Komponist Kurt Schwertsik, Bundeskanzler Franz Vranitzky, die Schriftstellerin Renate Welsh und der Bildhauer Erwin Wurm.
Wolfgang Schüssel war als Bundeskanzler in die Entstehung des Hauses der Geschichte involviert. Es war geplant, dieses mit dem Heeresgeschichtlichen Museum zu verknüpfen. Der Altbau sollte die Geschichte bis 1918 erzählen, ein Neubau sollte ein Haus der Republik sein. Jetzt haben wir ein Haus der Geschichte, das inhaltlich auf die Zwischenkriegszeit und die Zeit des Nationalsozialismus reduziert ist. Das finde ich nicht gut. Wollte man dem neuen Buch einen Vorwurf machen, wäre es genau dieser. Es geht weit mehr um die Erinnerungskultur als um die Zukunft.
Der Trendforscher Tristan Horx zeigt sich optimistisch gegenüber dem, was kommen wird: Die Zukunft verschwindet nicht - sie verändert ihre Richtung. Die Welt bewegt sich in Spiralen vorwärts und manches dauert länger, als es uns der rasende Zeitgeist verheißt. Gut so!
