Helga Maria Wolf#
Einleitung zu "Alltag Brauch Cultur. ABC zur Volkskunde Österreichs"#
Das Fach Volkskunde/Europäische Ethnologie ist gleichermaßen ein Kind der Aufklärung wie der Romantik. Die neu entstehende Wissenschaft der Statistik war zunächst an militärischen und fiskalischen Daten interessiert. Schon im 17. Jahrhundert ließ der französische Staatsmann Sébastien Le Prestre de Vauban(1633-1707) Daten über Land und Leute erheben. Sein besonderes Interesse galt der Verbesserung der Lebensbedingungen der ärmeren Schichten - weshalb er bei König Ludwig XIV. (1638-1715) in Ungnade fiel. Sein Vorbild wirkte ein Jahrhundert später auf Erzherzog Johann von Österreich (1782-1859), der eine groß angelegte Fragebogenaktion in der Steiermark durchführen ließ. Viele der 132 Fragegruppen betrafen klassisch-volkskundliche Themen. Neben das statistische Interesse traten andere, romantische - wie beim Philosophen Johann Gottfried Herder (1744-1803) der an ein "ideales Volk", den "Volksgeist" und den "Volkscharakter" glaubte - oder nationale, die im 20. Jahrhundert verheerende Wirkungen zeitigten.
Die Bezeichnung "Volkskunde" begegnet zuerst 1782 in einem Reisemagazin. 1858 sprach Wilhelm Heinrich Riehl (1823-1897) von "Volkskunde als Wissenschaft". Erst Journalist, später Ordinarius für Kulturgeschichte und Statistik, Direktor des bayerischen Nationalmuseums und Generalkonservator, war er methodisch bahnbrechend und machte sich für die Feldforschung stark. Er gilt als Vordenker und Begründer der Europäischen Ethnologie/ Volkskunde, doch sind sind seine konservativen und subjektiven Generalisierungen umstritten.
Das Standardwerk der volkskundlichen Lexika, das 10-bändige "Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens" (HDA) der Schweizer Eduard Hoffmann-Krayer und Hanns Bächtold-Stäubli wurde 1927–1942 herausgegeben. Die ungeheure Materialfülle - 600.000 Zettel im Stichwortkatalog - macht es bis heute zur unerschöpflichen Quelle. 1986 wurde es als Reprint aufgelegt, 2006 als CD, Teile sind im Internet abrufbar. Im Vorwort zum Reprint schrieb der Würzburger Ethnologie-Professor Christoph Daxelmüller von der oft verhängnisvollen Breitenwirkung des "popularisierten und manchmal auch verzerrten HDA", meint aber letztlich: "Wer sorgfältig mit ihm umzugehen weiß, wird es weiterhin mit Gewinn benutzen können."
Etwa gleichzeitig (1936) mit dem HDA erschien das "Wörterbuch der deutschen Volkskunde", begründet von Oswald A. Erich und Richard Beitl. Die letzte, 3. Auflage, stammt aus dem Jahr 1974. Obwohl im Vorwort auf die Bearbeitung und neue Stichwörter hingewiesen wird, wirkt vieles veraltet. So wird u.a. die heute abgelehnte Grimm'sche Kontinuitätstheorie verteidigt: "Grundsätzlich sucht dieses Wörterbuch überall den Anschluss an die Forschungsergebnisse der Germanenkunde …"
Arthur Haberlandt (1889-1964), Universitätsprofessor und Direktor des von seinem Vater gegründeten Österreichischen Museums für Volkskunde, brachte 1953 ein Bändchen "Taschenwörterbuch der Volkskunde Österreichs" heraus, dem 1959 "der andere Teil" folgte. Als "knapper, lehrhafter Abriss" sollte ein Sachwörterbuch zum Nachschlagen geboten werden, um die "kaum mehr übersehbare Fülle von Einzelarbeiten" der österreichischen Volkskunde zusammenzufassen.
In der Zwischenzeit hat sich nicht nur die Lebenswelt, sondern auch das Fach Europäische Ethnologie/Volkskunde, das sich mit Kultur und Lebensweise beschäftigt, grundlegend verändert. Viele Stichworte, die sich in den alten Lexika finden, besitzen nur noch Kuriositätenwert. Aktuelle und relevantere Forschungsfelder sind dazu gekommen. Es scheint nicht mehr möglich, ein umfasssendes, gedrucktes Volkskunde-Lexikon zu verfassen. Bewusst nennt sich das vorliegende Angebot daher "ABC" und nicht Lexikon oder Wörterbuch. Wenn dennoch versucht wird, ca. 900 Stichworte zu behandeln, geht es dabei selbstverständlich um ein "work in progress" oder eine "unendliche Geschichte". Das ist nur möglich, weil das Medium Internet Aktualisierungen erlaubt.
Zusätzlich zu den Begriffen im "ABC" gibt es einen Monatskalender mit zusammenfassenden Überblicken ("Brauchtum - warum ?" 01-12). Hier werden Feste aus dem bürgerlichen und liturgischen Kalender vorgestellt, wobei sich Überschneidungen zu den einzelnen Stichworten ergeben können. Es handelt sich überwiegend um Auszüge aus meinen inzwischen vergriffenen Publikationen "Österreichische Feste und Bräuche im Jahreskreis" (St. Pölten 2003) und "Das neue BrauchBuch" (Wien 2000), wo die detaillierten Literaturangaben zu finden sind.
Häufig wurde der Europäischen Ethnologie/Volkskunde, auch innerdisziplinär, eine "besondere Zuständigkeit für Unzeitgemäßes" vorgeworfen. Das "ABC" versucht gegenzusteuern, indem es aktuelle Nachrichten (z.B. von www.orf.at) aufgreift. Basis von "Alltag Brauch Cultur. ABC zur Volkskunde Österreichs" ist ein "erweiterter Kulturbegriff, dem die menschliche Arbeit zugrunde liegt.“ Damit folge ich meinem Lehrer Univ. Prof. Dr. Helmut Paul Fielhauer (1937-1987). Wesentliche Anregungen verdanke ich Univ. Prof. Dr. Leopold Schmidt (1912-1981), dem langjährigen Direktor des Österreichischen Museums für Volkskunde. Univ. Prof. Dr. Konrad Köstlin nennt beide "die wichtigsten und anregendsten Volkskundler der Nachkriegszeit. Schmidt hatte die 'Volkskunde als Geisteswissenschaft' deklariert, Fielhauer als 'demokratische Kulturgeschichtsschreibung'. Beide haben neue Wege gefunden, Bräuche als gesellschaftliche Tatsachen zu analysieren und zu bewerten, als Ausdruck und gesellschaftliche Grammatik von Herrschaft, Hierarchien und auch problematischen Ordnungen zu entschlüsseln."
"Denn", so Konrad Köstlin weiter, "Was wäre Wissenschaft, wenn sie nicht dazu verhülfe - zum gelungenen, besseren Leben. Nicht ganz direkt vielleicht, aber doch im Ganzen. Denn wenn wir mehr über uns und unsere kulturelle Herkunft wissen, können wir mit dem, was wir derzeit als 'Erbe' bezeichnen, besser, angemessen umgehen. Und die Volkskunde als Erzählerin der Geschichte und Gegenwart des eigenen Alltags gehört dazu."