Warnzeichen aus Richtung Nord#
Seit genau 125 Jahren bieten „leuchtende Nachtwolken“ Einblick in die Mesosphäre, das kälteste Reich der Erdatmosphäre.#
Mit freundlicher Genehmigung der Wiener Zeitung (Sa./So., 19./20. Juni 2010)
von
Christian Pintner
Java, am 27. August 1883:
Der Vulkan Krakatau vor der Westküste dieser Rieseninsel verschwindet in der Folge etlicher rascher gigantischer Detonationen. Die „Wiener Zeitung“ berichtet davon schon am nächsten Tag. Und bald wird auch die Dimension des Desasters deutlich: „Soweit sich das angerichtete Unheil bis jetzt überblicken lässt, fanden an hunderttausend Menschen, teils im Meere, teils in den Lavaströmen, dann durch den Steinregen und unter den einstürzenden Häusern den Tod.“
Die Druckwelle der ungeheuren Explosion läuft um den ganzen Globus. Rekordmassen vulkanischer Asche folgen, verteilen sich weltweit in der Atmosphäre. Der Himmel glüht nach Sonnenuntergang in furchterregendem Rot, auch über Europa. Es war wohl dieser Aufschrei der Natur, der den norwegischen Expressionisten Edvard Munch zu seinem berühmtesten Gemälde inspirierte: „Der Schrei“.
Unvertraute Wölkchen#
Die staubgetrübte Lufthülle sorgt jahrelang für außergewöhnlich farbige Dämmerungserscheinungen. Auf diese Weise erhalten Forscher einen höchst willkommenen Einblick in den Aufbau der noch rätselhaften höheren Atmosphäreschichten. Einer der neugierigsten Wissenschafter jener Zeit ist der 47-jährige Otto Jesse, Mitarbeiter der Königlichen Sternwarte in Berlin. Im Juni 1885 erblickt er längere Zeit nach Sonnenuntergang völlig unvertraute, weißsilbrige Wölkchen. Sie ähneln Federwolken. Doch Cirren schweben meist bloß in acht bis zwölf Kilometer Höhe und könnten sich daher bestenfalls als dunkle Silhouette vor dem Dämmerungsblau abzeichnen. Die neuen hellen Wolken müssen also, dies erkennt Jesse sofort, sehr weit über den altbekannten Cirren thronen – so hoch, dass sie noch von den letzten Strahlen der Sonnen getroffen werden.
Gemeinsam mit Sternwartedirektor Wilhelm Foerster entwickelt Jesse ein Beobachtungsprogramm für die „Leuchtenden Nachtwolken“ (englisch: „Noctilucent Clouds“, kurz NLCs). Die Vermessung von Fotoplatten, gleichzeitig an unterschiedlichen Orten belichtet, verrät ihre Flughöhe von gut 80 Kilometern. Rasch erklärt man die neuen Wolken mit der hochfliegenden Krakatau- Asche; auch, weil sie sich später immer seltener zeigen. Nach Jesses Tod im Jahr 1901 verliert sich das Interesse an ihnen. Sieben Jahre später rufen sich NLCs wieder in Erinnerung. Nach dem 30. Juni 1908 sind sie so hell, dass man in England nächtens Zeitung lesen kann. Erst später wird klar: Am Morgen dieses Tags hat sich erneut eine heftige Explosion ereignet, diesmal in Sibirien. Offenbar zerriss es einen 50 bis 80 Meter kleinen, marodierenden Himmelskörper knapp über der Steinigen Tunguska. Gas und Staub stiegen hoch in die Atmosphäre auf und erreichten binnen kurzer Zeit Nordwesteuropa.
1957, im „Internationalen Geophysikalischen Jahr“, wird die Beobachtung der NLCs konsequent vorangetrieben. Gleichzeitig beginnt die Ära der Raumfahrt. Bald schießen Raketen durch das bizarre hohe Wolkenreich, um es vor Ort zu erforschen. Schließlich gucken sogar Raumfahrer vom Orbit aus auf die leuchtenden Gebilde herab. Mitunter sehen sie dabei ihre eigenen „Auspuffgase“. Denn der beim Aufstieg des Space Shuttle reichlich produzierte Wasserdampf kann von kräftigen Luftturbulenzen gepackt und innerhalb weniger Stunden in die Polargebiete verfrachtet werden. Doch Shuttle- und Raketenstarts sind sicherlich bloß für einen Teil der NLCs verantwortlich.
Forscher unterteilen die Atmosphäre in mehrere Stockwerke. Wir residieren ganz unten, im Souterrain der Troposphäre, in der Wetterküche der Erde. Der dritte Stock wird „Mesosphäre“ genannt und erstreckt sich von etwa 50 bis 85 Kilometer Höhe. An seinem Plafond, der Mesopause, ist die Luft zehntausendmal dünner als bei uns auf Erden. Und dort herrscht zudem eine brutale Kälte. Über der Arktis fällt das Thermometer auf minus 143 Grad Celsius, und zwar paradoxerweise im Sommer. Im Winter ist es um 60 Grad „wärmer“.
Treibhausgase wie Wasserdampf, Kohlenstoffdioxid und Methan heizen unsere Etage des Atmosphärengebäudes auf. Im dritten Geschoß hingegen wird die gefangene Energie munter in den Weltraum abgestrahlt: daher die enorme Kälte. Sie ist Voraussetzung dafür, dass Wasserdampf dort sommers zu Eis erstarren kann. Eine weitere Bedingung ist das Vorhandensein fester Kerne, auf denen der Dampf kondensiert. Vulkanstaub vermag diese Funktion nur sporadisch zu erfüllen, normalerweise ist es kosmischer Staub. Der fällt tagtäglich tonnenweise aus dem All ein. Seine Teilchen stammen von Kometen, die sich in Sonnennähe aufgelöst haben, oder von Kleinplaneten, die miteinander kollidiert sind. Kosmische Eindringlinge von Millimetergröße verdampfen in der Mesosphäre – wir sehen dann Sternschnuppen. Die allerwinzigsten überleben jedoch und schweben nach kurzer Erwärmung recht gemütlich durch die Luft. Der Wasserdampf tut sich schwer, aus unserer Troposphäre in die Mesosphäre aufzusteigen. Er kann sich dort droben aber auch aus Methan bilden, das vom UV-Licht der Sonne getroffen wird. Trotzdem bleibt es hundert Millionen Mal trockener als in der Sahara. Der rare Wasserdampf lagert sich auf den Staubpartikeln ab und erstarrt dabei zu Eis. Jedes Eisteilchen ist tausendmal kleiner als der Querschnitt eines Menschenhaares. Gewinnt so ein Partikel nämlich an Gewicht, sinkt es ab und verdampft in den tieferen, schon etwas wärmeren Mesosphäreschichten.
Licht in der Dämmerung#
Deshalb bleiben die Eiswolken extrem dünn. Tagsüber sind sie mangels Kontrast nicht auszumachen; ebenso nicht am völlig dunklen Nachthimmel. Bloß in der späteren Dämmerung bietet sich die Chance, sie zu erblicken. Für irdische Betrachter ist die Sonne dann schon versunken, und der Himmel relativ dunkel. Aus der Perspektive der 83 bis 84 Kilometer hoch fliegenden Eispartikel ist sie aber noch zu sehen. Nur deshalb können die Wolken das Sonnenlicht hinab zu den Nachtschwärmern streuen. Im Baltikum, in Finnland, Südschweden, Dänemark, Norddeutschland, Schottland, Kanada und Alaska sind NLCs heute recht häufig zu erblicken.
Die Mesosphäre liegt über der schützenden Ozonschicht. Deshalb werden ihre Wassermoleküle leicht von der solaren UV-Strahlung aufgebrochen. Daher ist bei starker Sonnenaktivität das Baumaterial für die NLCs noch knapper als sonst, wobei eine seltsame Zeitverzögerung von einem Jahr in der Wolkenstatistik auffällt. 2009 blieb die Sonne äußerst ruhig: Demnach könnte heuer ein „NLC-Festival“ ins Haus stehen.
Im April 2007 hob eine kleine Pegasus XL-Rakete den NASA-Satelliten AIM in den Himmel. Sechs Nord- und Südsommer hatte er also bereits Gelegenheit, die Mesosphärenwolken aus 600 Kilometer Flughöhe zu studieren. Er meldete einen von Tag zu Tag dramatisch wechselnden Anblick, wobei er sich primär auf das Gebiet über dem 60. Breitengrad konzentrierte. Mit zunehmendem Polabstand sollte, laut Vorausberechnung, die Mesosphäre zu warm für die Bildung der Eiswolken werden.
Doch darauf ist kein Verlass mehr. Die NLCs dringen in gemäßigte Breiten vor. Am 14. Juli 2009, dem französischen Nationalfeiertag, „stürmten“ sie die Pariser Bastille und sonnten sich Stunden später über Kalifornien. Ein knappes Jahr zuvor sah man sie vom Nordiran aus.
Tatsächlich fühlen sich die kälteliebenden Wolken im Süden immer wohler. Und auch abseits der Pole sinkt die Temperatur der Mesosphäre, und zwar gleich um mehrere Celsiusgrade pro Jahrzehnt. Offenbar ist das eine Spiegelung der bodennahen Erderwärmung, aber mit umgekehrtem Vorzeichen und drastisch vergrößert. Fazit: NLCs treten jetzt doppelt so häufig auf wie noch vor drei Jahrzehnten. Und sie werden außerdem immer heller.
Offensichtlich steht ihnen zunehmend mehr Wasserdampf zur Verfügung, speziell dank der immer größeren Methanmengen in der Mesosphäre. Heute gehen bereits zwei von drei Methanmolekülen auf menschliches Tun zurück: sie stammen von industriellen Prozessen und von der intensiveren Landwirtschaftsproduktion. Das erklärt, warum man die NLCs erst seit 125 Jahren kennt. So bedenklich diese Wolken als Indiz großer atmosphärischer Veränderungen auch sind: manchen Österreichern schenken sie im heurigen Juni und Juli eine zusätzliche Attraktion am Sternenhimmel. Schweben sie über Deutschland oder Polen, erspähen wir sie in geringer Höhe über dem nordwestlichen bis nordöstlichen Horizont. Sie setzen sich auch am lichtverseuchten Großstadthimmel durch – vorausgesetzt, man findet eine noch unverbaute Stelle, die den Blick bis tief hinab zum Horizont eröffnet.
Am Dämmerungshimmel macht das freie Auge das charakteristische Wolkenspiel aus: parallele Bänder oder weiße Wellen, die an ein Fischgrätenmuster oder an Sandrippeln am Meeresufer erinnern. Dieses Schauspiel konnte man in Österreich im Vorjahr in mindestens sieben Nächten miterleben. Rund um den Sommerbeginn stellen sich in der Osthälfte unseres Landes vor allem zwischen 22 und 23 Uhr günstige Beleuchtungsbedingungen ein, ebenso zwischen 3 und 4 Uhr früh. Ende Juli sollte man abends eine halbe Stunde früher, morgens eine halbe Stunde später Ausschau halten, um Otto Jesses Wolken zu bewundern.
Christian Pinter, geboren 1959, ist Autor des astronomiegeschichtlichen Lesebuchs „Heldendes Himmels“.