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Ein kleines Wahrzeichen#

Die gotische Kirche Maria am Gestade fällt zwar im Wiener Stadtbild nicht sehr auf, ist aber von nicht geringer kunsthistorischer und religiöser Bedeutung.#


Von der Wiener Zeitung (Mittwoch, 24. Dezember 2010) freundlicherweise zur Verfügung gestellt

von

Martin Leitgöb


Maria am Gestade
Der Turm mit seinem verzierten Helm ist das Prunkstück der schmalen gotischen Kirche Maria am Gestade. Foto: Stanislav Doronenko / Wikipedia

Wer durch die Wiener Innenstadt streift, dem tritt die Gestadekirche mit ihrem bemerkenswerten gotischen Turmhelm nicht selbstbewusst entgegen. Sie befindet sie sich in einer Randlage des Stadtzentrums, versteckt im dichten Häusergewimmel hinter der Wipplingerstraße. Nur wer von der Börse her kommt, nimmt Maria am Gestade mit ihrer steil aufragenden Westfassade und ihrem Turmhelm nicht erst dann wahr, wenn er unmittelbar davor steht. Aus der anderen Richtung, von der Sterngasse her, sieht man immerhin den Turmhelm, so als hätte ihn jemand als kostbares Artefakt über den Dächern des Fischerviertels platziert. Ein spezieller Blick auf die Gestadekirche ergibt sich für jene, die auf der Schüttelstraße und der Oberen Donaustraße stadteinwärts fahren.

Das Fischerviertel gehört zum ältesten Wiener Siedlungsgebiet. Hier lag der Militärhafen von Vindobona. Die steile Geländekante zwischen dem weitverzweigten Flussbett des einstigen Donauverlaufes und dem Hochplateau, auf dem sich die römischen Kasernen befanden, ist immer noch vorhanden, wenn auch überbaut. Im Spätmittelalter wurde diese Geländekante von den Wienern als "G’stetten" wahrgenommen und die Gestadekirche als "Unsere Frau auf der G’stetten" bezeichnet. Für die Stadt war die Gegend freilich weiterhin von wichtiger Bedeutung. Unterhalb der Geländekante befand sich mit dem "Salzgries" die Anlegestelle für die Salzschifffahrt wie für alle übrigen Schiffe, die den Weg nach Wien fanden. Die heutige Salvatorgasse südlich von Maria am Gestade wurde bereits am Übergang vom frühen zum hohen Mittelalter als ein Straßenzug angelegt, der auf den damaligen Besiedlungskern von Wien, den "Berghof" um St. Ruprecht, führte.

Eine "Kultnachfolge"?#

Über den historischen Ursprung von Maria am Gestade ließe sich trefflich streiten. Mit diesem Streit hängt nichts weniger als der Anspruch auf den Titel "Älteste Kirche Wiens" zusammen. Im 19. Jahrhundert (und auch später noch) war man nicht verlegen zu postulieren, dass die akzentuierte topographische Lage an der nordwestlichen Ecke des ehemaligen Kastells auf das Heiligtum einer antiken Göttin schließen lasse und man deshalb von einer "Kultnachfolge" ähnlich wie bei "Santa Maria sopra Minerva" in Rom ausgehen könne. Den Nachweis für diese geschraubte These blieb man allerdings schuldig.

Anzunehmen ist, dass es bereits vor der Wende vom ersten zum zweiten Jahrtausend einen kleinen Vorgängerbau der Gestadekirche gab. Immerhin lässt das Marienpatrozinium auf eine Sakralstätte schließen, die nicht viel jünger sein dürfte als die Ruprechts- und die Peterskirche. Diese beiden Gotteshäuser bestanden der Überlieferung nach bereits im 8. Jahrhundert. Als Ursprungsdatum für Maria am Gestade wurde und wird gerne die Jahreszahl 882 angegeben. Ein Passauer Chorbischof namens Madalvin habe in diesem Jahr dem Priester Alfried, der als Missionar in Mähren wirkte, den Auftrag zum Kirchenbau gegeben. Doch findet sich dieses Datum erst in einer Broschüre aus dem 18. Jahrhundert und ist also wenig aussagekräftig.

Ihre erste urkundliche Erwähnung fanden die drei mutmaßlich ältesten Kirchen Wiens erst im 12. Jahrhundert. Der Babenbergerherzog Heinrich Jasomirgott übergab im Jahr 1158 dem von ihm gegründeten Schottenkloster die damaligen, innerhalb der Stadtmauern sich befindlichen Gotteshäuser, darunter eben auch Maria am Gestade. Die für ganz Wien verheerende Brandkatastrophe im Jahre 1262 hatte auch für das damalige romanische Kirchengebäude zerstörerische Folgen. Mit dem Wiederaufbau wurde nicht lange gewartet. Allerdings war diesem Bau nur eine vergleichsweise kurze Dauer beschieden, denn gut hundertfünfzig Jahre später erhob sich an seiner Stelle bereits das bis heute bestehende gotische Kirchenschiff.

Das 14. Jahrhundert war eine baufreudige Zeit gewesen. Die habsburgischen Landesfürsten hatten ihren Stolz in die Errichtung monumentaler Bauwerke gesetzt. Ihr Interesse galt vor allem der Stephanskirche, die nach dem Willen Rudolfs IV. zu einer Art Landesheiligtum für das Herzogtum Österreich ausgebaut werden sollte. In Maria am Gestade kam dagegen zunächst das aufstrebende Bürgertum zur Geltung, welches in dieser Zeit mit einem eigenen Rathaus in der Salvatorgasse ein augenfälliges Zeichen seines Selbstbehauptungswillens setzte.

1302 war die Kirche aus dem Besitz des Schottenklosters an den ritterlichen Bürger Greif übergegangen. Etwa zwischen 1330 und 1350 wurde an das bestehende romanische Gebäude ein gotischer Chor angebaut. 1394 bis 1414 wurde schließlich die alte Kirche durch ein gotisches Langhaus ersetzt. Weil zwischen der damals bereits bestehenden Häuserzeile auf der südlichen Seite und der Geländekante mit ihrer Verbauung im Norden nicht viel Platz zur Verfügung stand, fiel dieses Langhaus einigermaßen schmal aus. Charakteristisch für Maria am Gestade ist der Knick in der Mittelachse, dessen Sinn nicht mehr genau zu ergründen ist.

War es der gotischen Architektur aufgrund der räumlichen Gegebenheiten nicht möglich, an der Gestadekirche ihre Schaffenskraft in der üblichen atemberaubenden Weise zu zeigen, so ist der Gestadeturm mit seinem zierlichem Maßwerkhelm eine geradezu spektakuläre Ausprägung damaliger Kunstfertigkeit. Er steht an der Südseite der Kirche, am Beginn des Langhauses, besitzt diesem gegenüber aber eine bauliche-statische Selbstständigkeit. Allein schon deshalb, weil mit dem Turm bereits vor dem Langhausneubau begonnen wurde, wahrscheinlich in der Mitte des 14. Jahrhunderts, also etwa zeitgleich mit der Fertigstellung des gotischen Chores. Der Turm hatte zunächst wohl nur bis zur Höhe des Chordaches gereicht, seine endgültige Höhe von 56 Metern erhielt er zwischen 1419 und 1429. Die Entwürfe für den Turmabschluss stammen vermutlich aus der Feder des herzoglichen Baumeisters Meister Michael, verwirklicht wurden sie durch Peter von Prachatitz.

Konkurrenzverhältnisse#

1357 wurde die Kirche von der Familie Greif an das Bistum Passau verkauft, und sollte fortan Sitz eines bischöflichen Jurisdiktionsbevollmächtigten für die Gebiete des Bistums in Österreich sein. Maria am Gestade war seit 1409 eine Enklave dieses Bistums innerhalb Wiens und blieb es bis zur Neugestaltung der Diözesanverhältnisse in Österreich unter Joseph II.. Seit der Gründung eines eigenen Bistums Wien 1469 führte dies zu einem ausgesprochenen Konkurrenzverhältnis zum Stephansdom und der dort angesiedelten Diözesankurie. Der Sprengel des Wiener Bistums umfasste im Wesentlichen nicht mehr als die heutige Wiener Innenstadt, die mächtigen "Offiziale" der Passauer Bischöfe waren dagegen für das kirchliche Leben in ganz Österreich ob und unter der Enns zuständig.

Gleichwohl bildeten die Türme von St. Stephan und von Maria am Gestade seit der Mitte des 15. Jahrhunderts in trauter Gemeinsamkeit feste Blickpunkte im Panorama der Stadt. Auf der ältesten Stadtansicht von Wien, dem Tafelbild "Joachim und Anna an der Goldenen Pforte" des ursprünglich für die Kirche am Hof geschaffenen Albrechtsaltares, sind sie beide zu sehen. Der "Steffel" wirkt auf diesem Tafelbild wie ein mittelalterlicher Wolkenkratzer, der mit seinem spitz zulaufenden Abschluss den Himmel berühren möchte. Der Turm von Maria am Gestade mit seinem kronenförmigen Helm steht bescheiden daneben.

Über den Symbolreichtum des Gestadeturmes könnte man lange Abhandlungen schreiben. Für den Turmaufbau spielt die Siebenzahl eine wichtige Rolle: siebeneckig ist der Grundriss, und auf diesem Grundriss erhebt sich der Turm wiederum mit sieben Geschoßen. Neben der allgemeinen Bedeutung der Siebenzahl in der christlichen Theologie und Mystik – sieben Tage der Welterschaffung, sieben Gaben des Heiligen Geistes, sieben Tugenden, sieben Sakramente – ist diese Zahl besonders bedeutungsvoll, was die Gottesmutter Maria betrifft. Mittelalterliche Theologen hatten die spärlichen biblischen Zeugnisse über die Mutter Jesu zu "sieben Freuden" und "sieben Schmerzen Mariens" geordnet. Entsprechend dieser Mariensymbolik wäre der zarte Maßwerkhelm des Gestadeturmes, der konträr zu den meist pyramidenförmigen gotischen Turmabschlüssen steht, als Marienkrone zu deuten.

Die Krönung der Gottesmutter nach ihrer Aufnahme im Himmel ist ein fester Topos in der hoch- und spätmittelalterlichen "Mariologie". Auffällig ist, dass der Gestadeturm an seinem unteren Ende herb und erdenschwer wirkt, nach oben hin von Geschoß zu Geschoß leichter und offener, vergeistigter und innerlicher wird. Er war damit ein Sinnbild des Menschseins, das Gott zustrebt und in der Begegnung mit Gott Erlösung und Verklärung empfängt. Die Kreuzrose an der Spitze des Turmhelmes ragt in diesem symbolischen Zusammenhang als aufgeblühte menschliche Seele zum Himmel empor, mit dem sie durch das abschließende vergoldete Kreuz verbunden ist.

Bedrohung und Rettung#

Die Kirche Maria am Gestade wurde mit ihrem Turm durch die Jahrhunderte stets als ein unaufdringliches, aber nicht wegzudenkendes Wiener Wahrzeichen gesehen. Als der Turmhelm während der ersten Türkenbelagerung 1529 schwer beschädigt wurde, versetzte man ihn wenige Jahre später bereits wieder in den Originalzustand. Und als die Kirche in der Ära des aufgeklärten Absolutismus Ende des 18. Jahrhunderts dem Erdboden gleichgemacht werden sollte, wurde dieses Vorhaben solange verschoben, bis es nicht mehr galt.

Eine Vedute Rudolf von Alts zeigt Maria am Gestade am Heiligen Abend des Jahres 1860, also vor genau 150 Jahren. Die Kirche mit ihrem Turm inmitten der engen Gassen des Fischerviertels liegt im Mondschein, aus ihrem geöffneten Hauptportal leuchtet helles Licht. Menschen kommen aus der Christmette und treten auf den leicht mit Schnee bedeckten Vorplatz. Rudolf von Alt hatte 1817 als Fünfjähriger in seinem Elternhaus mit großem Kinderstaunen einen der ersten Christbäume Wiens gesehen.

Dreiundvierzig Jahre später fühlte er vor der Gestadekirche vielleicht so, wie Christine Busta es in ihrem Gedicht "Eine Heimkehr" ausgedrückt hat: "Und bei Maria am Gestade / nahm uns im Steingespinst ihres Turmhelms / ein verloren geglaubter, / ewigkeitsblauer Kinderhimmel / wieder in sein Visier".

Zum Autor dieses Beitrags: Martin Leitgöb, geboren 1972; Theologiestudium, Promotion im Fach Kirchengeschichte; freischaffender historischer und theologischer Publizist; Mitglied des Redemptoristenklosters Maria am Gestade.

Wiener Zeitung, Mittwoch, 24. Dezember 2010