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Krems als Wien im Kleinformat#

Ich habe die Welt gesehen und in der österreichischen Bundeshauptstadt gelebt. Jetzt bin ich alt - und finde Urbanität und Kultur auch am Rande der Wachau.#


Von der Wiener Zeitung (19. September 2020) freundlicherweise zur Verfügung gestellt

Von

Erich Bramhas


Das Steiner Tor, früher Teil der Stadtmauer, ist das Wahrzeichen von Krems
Das Steiner Tor, früher Teil der Stadtmauer, ist das Wahrzeichen von Krems.
Foto: Bwag, unter CC BY-SA 4.0

Als Architekt und Stadtplaner habe ich Stockholm, Zürich,Palermo, Florenz, Rom und Jerusalem zu Fuß erkundet. New York habe ich mir an einem schönen Sonntag mit einem geborgten Fahrrad erobert. Wer vom Wesen San Franciscos etwas mitbekommen will, muss die Golden Gate Bridge in beiden Richtungen abschreiten, wenn sie zuerst eingehüllt in weißem Nebel schwebt, dann die roten Brückenportale und Seile von Wolkenfetzen durchjagt werden, grellblaue Himmelslöcher sich auftun und schließlich das Panorama der silbrig glänzenden Wolkenkratzerstadt in seiner ganzen Breite und Pracht am Horizont erscheint. Diese Brückenkonstruktion in einem Erdbebengebiet (!) scheint unzerstörbar zu sein, während andere, vergleichbare, wie die Wiener Reichsbrücke oder die Morandi-Brücke in Genua bereits ruhmlos zusammengekracht sind.

Ich bin Wiener, jetzt bin ich alt und möchte alles, was ich brauche und was eine Stadt zu bieten hat, in Gehentfernung erreichen können. Urbanität und Kultur sind mir wichtig.

Kurskorrektur#

In Krems habe ich auf 4 km2 "fußläufig" alles, was ich mir in Wien auf 400 km2 mit Hilfe eines komplexen, daher reparatur- und störungsanfälligen Öffi-Verkehrssystems erst mühsam zusammenkratzen muss. Mit dem Auto ginge es auch. Aber das wäre umweltschädlicher, teurer und noch viel mühsamer. Vom strategisch gewählten Standort Schillerstraße zwischen Krems und Stein erreiche ich donauaufwärts oder donauabwärts in höchstens 15 Minuten Gehzeit alles, was ich täglich brauche - und noch viel mehr. Zum Beispiel die Luxusrestaurants, die man auch in Wien gut kennt, die Kunstmeile, die Badearena sowie den Bahnhof und den Busbahnhof. Bahn, Bus, Schiff, Fahrrad sind die Verkehrsmittel, mit denen man den Vorgarten von Krems bereist, die Wachau, die schönste Flusslandschaft Europas. Nördlich des ufernahen Bebauungsstreifens von Krems und Stein liegen in einer Hügellandschaft die terrassierten Weingärten mit kleinen Heurigenorten dazwischen. Krems ist Wien, auf ein Hundertstel eingedampft.

Die Konsequenz der Fußläufigkeit ist die Dominanz des persönlichen Gesprächs an Stelle der digitalen Kommunikation. Das nütze ich jetzt sportlich aus. Wenn ich etwas zu fragen oder zu erledigen habe, dann gehe ich hin und rede. Manchmal auch vergeblich. Aber ich mache die Erfahrung, dass viele Gesprächspartner geradezu darauf warten, persönlich angesprochen zu werden, weil es dann zu einem für beide Seiten interessanten Erlebnisaustausch kommt. Von zwei Linzer Studentinnen, die nach Budapest radeln, erfahre ich, dass sie dort in einer Blase die drei Hauptsprachen der EU trainieren, die sie später lehren werden, und dass sie fast keine Kontakte zu Ungarn haben. Sie erfahren von mir, dass ich einmal Gestaltungsbeirat in Linz gewesen bin, und ich erkläre ihnen, was das ist. Es ist nicht wichtig für sie, aber es interessiert sie trotzdem.

Krems ist eine Schul- und Universitätsstadt. Die Studenten sind derzeit noch auf Urlaub, zuletzt waren viele Bayern hier. Eines Tages sitzt einer mir gegenüber am Frühstückstisch des Hotels. Er hat dem Sultan Qabus des Oman Flieger verkauft. "Drohnen?", "Na, scho größere", "???" "Airbus." Neben ihm eine außergewöhnlich zarte Schwarzhaarige aus Singapur. Ich erwähne, wie sehr ich von der Kooperation der drei Ethnien (Chinesen, Malaien, Inder) in diesem Stadtstaat beeindruckt gewesen bin. "Ja, aber ich bin Eurasierin, das ist die vierte Gruppe, die vergisst man leicht. Unsere Vorfahren sind Europäer, unsere Muttersprache ist Englisch", sagt sie in einwandfreiem Deutsch. Man lernt nie aus.

Krems ist für mich persönlich ein Synonym für Kurskorrektur und Reduktion, und das sind die wichtigsten Öko-Themen Europas. Aber das könnte man schließlich auch in Apetlon haben. Was Krems attraktiv macht, beruht auch noch auf anderen Komponenten, historischen, geographischen und wirtschaftlichen, welche die Stadt und die Städter wohlhabend machten.

Das Nibelungenlied ist ein Schlüssel zu diesem Verständnis. Es entstand um 1200, wahrscheinlich 1204, im Umkreis des Bischofs von Passau und ist eine Collage aus personalisierten Mythen der Völkerwanderungszeit mit Einsprengseln aus der damals aktuellen politischen Situation im "Nibelungengau". Der war im Besitz der Babenberger, die von Passau bis Wien das Sagen hatten. Daher die prominente Rolle der Donau bzw. des Donautals und der Orte an den Ufern in dieser Dichtung, aber eben auch in der Realität. Es war die einzige Verkehrsachse in West-Ost-Richtung nördlich der Alpen und daher von überragender strategischer Bedeutung. Wenn man schnell größere Kreuzfahrerheere auf dem Landweg über Byzanz ins Heilige Land zum Kriegseinsatz bringen wollte, dann war von England und Frankreich ausgehend die Route Worms, Regensburg, Passau, Wien, also durchs Babenbergerland, ein Muss.

Dominanz des Alten#

Wenige Jahre vor der Entstehung der Nibelungendichtung war es auch die Route des 3. Kreuzzugs, 1189-92, welcher der größte, der bestorganisierte und ein halbwegs erfolgreicher gewesen ist. Dessen Personalstand haben wir in der Schule gelernt: Kaiser Barbarossa, König Löwenherz von England, König Philipp von Frankreich, und Leopold, der Babenberger, war auch dabei. Löwenherz’ Streit mit Leopold, seine Gefangennahme auf dem Rückweg, die Internierung in Dürnstein und sein spektakulär teurer Freikauf sind ebenfalls Schulstoff. Es würde eine Überraschung sein, wenn der Engländer, präpotent und brutal, wie er war, dem Nibelungendichter nicht in irgendeiner Form Modell für dessen blutrünstige Helden gestanden wäre. Eine Verkehrsachse mit viel Publikumsverkehr, darunter Kaiser und Könige, macht wohl auch die Städte an den Ufern reich, in denen man rastet.

Es ist fast schon ein Gemeinplatz, wenn man sagt, dass ein in der Vergangenheit geschaffener und dann konservierter Reichtum automatisch zum Kulturgut wird. In Krems zeigt sich das in der hohen Zahl alter, großer und schöner Kirchen, von denen einige schon längst zu Museen geworden sind. Sie sind spätromanisch, gotisch, barock oder ein Mischmasch davon. Kann man sich vorstellen, dass sie jemals an Sonntagen alle voll gewesen sind?

Üppig ist auch die Bausubstanz des Stadtkerns. Sie mag auf das Mittelalter zurückgehen, erscheint aber fast überall im Fassadengewand der Renaissance und des Barock. Früher war hier die "Landstraße", heute ist sie Fußgängerzone. Ich habe den Eindruck, dass die verkehrsberuhigten Bereiche insgesamt etwa so groß sind wie die der Wiener City. Die alten, meist dreigeschoßigen Bürgerhäuser, zeigen den Stolz ihrer Besitzer. Jedes Haus ist deutlich unterscheidbar, also individuell geprägt. Diese Individualität wird durch die sorgfältige Farbwahl von Pastelltönen, meist in Kontrast zu Weiß, unterstrichen, wobei es den Denkmalexperten bei den vielen beispielhaften Renovierungen sogar gelungen ist, aus Taubengrau noch Heiterkeit herauszuholen. Krems ist eine Kulturstadt.

Diese Üppigkeit und diese Dominanz des Alten gegenüber dem Neuen muss wirtschaftliche Gründe haben. Ich glaube, es liegt daran, dass Krems, genauso wie viele andere kleinere Städte Niederösterreichs, von der Industrialisierung eher nur gestreift worden ist. Donau und Donautal taugen auch schon längst nicht mehr als Hauptverkehrsachse. Die Hauptverkehrsträger West-Ost und umgekehrt sind Bahn und Autobahn, südlich von Krems, und die neue Route des Hauptverkehrs wird von München, Salzburg, Linz, St. Pölten und Wien markiert. Auf dieser neuen Hauptverkehrsachse kann man dem Motto des kapitalistisch organisierten Wirtschaftslebens, "Time is money", viel besser entsprechen, indem man rast. Man tut es auch, und durch sehr teure Bahn-Untertunnelungen bei Wien hat sich auch der Staat in der Zeitgewinnung engagiert.

Panoramabild von Krems von Westen gesehen
Panoramabild von Krems von Westen gesehen.
Foto: Name. Aus: Wikicommons, unter CC BY-SA 3.0

Bedächtiger leben#

Global betrachtet spielt das alles aber ohnehin nur mehr eine untergeordnete Rolle. Die neue Seidenstraße verbindet China mit Deutschland auf dem Landweg quer durch Sibirien, und wenn im quartären Wirtschaftssektor, dem Geldwesen, New Yorker Investmentbanken in Sekundenschnelle Milliarden verschieben, dann wissen sie oft gar nicht, welche Auswirkungen das geographisch an einzelnen Orten auf die Erdoberfläche und die Menschen, die dort wohnen, hat. Es ist ihnen auch schnurzegal.

Wir sind an den Grenzen dieses Systems angelangt, es ist in die Krise geraten, und immer drängender wird die Frage: Wozu? Ein interessantes Detail: Ich glaube bemerkt zu haben, dass die Autofahrer in Krems vor einem Zebrastreifen viel früher halten als in Wien, wenn sie einen Fußgänger auf dem Gehsteig sehen, der nur leicht und vielleicht unabsichtlich auf die Straße schielt. Mir fällt dazu das Wort "bedächtig" ein. Sollte man nicht auch deutlich sagen, dass ein Ort, an dem die Menschen die Sekundenschinderei verweigern und mit der Zeit großzügiger umgehen, gleich viel menschlicher wirkt?

Die Pfarrkirche St. Veit in Krems an der Donau. Die Pfarrkirche St. Veit in Krems an der Donau.

Eines Tages schnappe ich die Ankündigung auf, dass in der Pfarrkirche St. Veit ein Konzert stattfinden wird: Schumanns selten gespieltes, weltliches Oratorium "Das Paradies und die Peri". "Alles ausverkauft", sagt man mir in der Touristen-Information. Lächerlich. Ich gehe hin und rede. Ich komme rein (mit einem uralten Studentenschmäh). War gar nicht so schwer. Wie für mich hingezaubert steht da ein leerer Stuhl im Corona-Abstand zu allen anderen. Ein Konzert wie im Himmel. Da stimmt einfach alles. Die Musik, der Kirchenraum, die Akustik, die Beleuchtung und sogar noch der einfache Holzsessel, in dem ich mich, ausruhend, einem lange entbehrten Kunstgenuss hingeben kann.

Kunst und Kultur sind die wichtigsten Zeitvertreiber überhaupt. Wenn Krems so weitermacht, wird es bald zurückbleiben und dann "zurückgeblieben" sein. Gut so! Umso besser, wenn man sieht, wie die stark ramponierten Protagonisten des ewigen Wirtschaftswachstums, der Geldvermehrung und der Hetzjagd jetzt hilflos im Zukunftsnebel herumrudern.

Da braucht man nicht unbedingt ganz vorne mit dabei sein.

Erich Bramhas ist Architekt, Stadt- und Raumplaner und war viele Jahre als Architktur-Mitarbeiter in der "Wiener Zeitung" (Beilage "extra") tätig.

Wiener Zeitung, 19. September 2020