Eine Hölle, in der das Eis regiert#
Entdeckt und dennoch nicht zur Kolonie gemacht: Franz-Joseph-Land.#
Nicht nur 140 Jahre zurückgeblättert#
Von der Wiener Zeitung (Freitag, 3. Oktober 2014) freundlicherweise zur Verfügung gestellt.
Von
Alfred Schiemer
Alt-Österreich war nach 1848 Großmacht in der Wissenschaft wie in der Forschung - in diversen Disziplinen. Eine Sparte, die Erkundung der Arktis, ist noch Generationen später in unserem Land dank populärer Darstellungen zur österreichisch-ungarischen Nordpolexpedition 1872-1874 breit bekannt.
Die Größe des Unternehmens ermisst man freilich erst, wenn man von der Pioniertat ausgehend mehr als 100 Jahre zurückblickt: Wir müssen uns vor Augen halten, dass die Erforschung der nördlichsten Welt im Zeitraum von der Mitte des 18. bis zur Mitte des 19. Jh.s eher stockte. Und dass selbst die anschließenden zwei Jahrzehnte trotz Hilfsexpeditionen für die in arktischen Gewässern vermissten Schiffe John Franklins, deren Scheitern man 1859 eruierte, relativ wenig erbrachten. (N.B. Eines der Wracks fand man erst im September 2014!)
Zeilen aus einem 1750 auch in Habsburgs Landen verlegten Geographiewerk (erschienen in Augsburg und in Innsbruck) machen den einstigen Stand der Dinge anschaulich.
Im Werk "Kurtze Vorstellung der Erd-Kugel (...)" - vgl. Teil-Faksimiles links - findet sich zu "denen unbekannten Nord-Ländern" eine Erläuterung, nach der diese Gebiete "uns Europäern noch nicht völlig bekannt seynd". Diese schöne Formulierung wird allerdings an anderer Stelle präzisiert, steht doch auf Seite 9 des Buches zum Thema "Terra Polaris incognita arctica" (= unbekanntes arktisches Polarland): "meisten-theils (...) unbekannt".
Zudem lesen wir, "ausser Nova Zembla" (= Nowaja Semlja), "Spitz-Bergen" und "Grönland" gebe es kaum Erkundetes in der nördlichsten Welt. Wie sich dieses kärgliche Wissensniveau hielt und hielt, zeigt die Entdeckungsgeschichte des Franz-Joseph-Lands - über den östlich von Spitzbergen und nördlich von Nowaja Semlja gelegenen Archipel mit ca. 16.000 km² Fläche (= etwa wie die Steiermark) besaß man bis zum 30. August 1873 keinerlei gesicherte Erkenntnisse.
Erst an diesem für die Polarforschung denkwürdigen Tag hob sich nicht nur im übertragenen Sinne der Nebel, der die Inselgruppe so lange völlig eingehüllt hatte.
Als sich damals zu Mittag Dunstwolken auflösten, hatten die 24 Mann auf dem österreichisch-ungarischen Dreimaster "Tegetthoff" plötzlich Sicht auf unbekanntes, noch nie kartographiertes Bergland. Die deutlich erkennbaren Felszüge ließen die Expeditionsteilnehmer jubeln: "Land, Land, endlich Land!" Dabei ging es allerdings nicht um wissenschaftliche Erfolge, sondern um Hoffnung auf Entrinnen aus der Eishölle.
Denn niemand hatte das mit einer 100-PS-Dampfmaschine ausgestattete Segelschiff zu den Inseln gesteuert, vielmehr war das von Eis fest umschlossene Fahrzeug auf einer riesigen Scholle dahingedriftet...
Die Mannschaft auf dem am 13. Juni 1872 von Bremerhaven abgefahrenen Schiff stand bald Todesängste aus. Wochen nach dem Festfrieren des Dreimasters im Nordmeer hatten Eispressungen eingesetzt, die den "Tegetthoff" zu zerquetschen drohten. Man schlief in voller Montur, um stets aufs Eis fliehen zu können. Aber das Fahrzeug hielt stand. Nach der Polarnacht ohne jeden Sonnenstrahl (Dezember 1872-Februar 1873) scheiterte freilich das Monate kostende Vorhaben, das im Eis festsitzende Schiff freizusprengen. Auch konnte man das Ende August erspähte Land erst im Herbst betreten, als die Scholle samt Schiff dem Ufer nahe kam.
Julius v. Payer (1841-1915; Expeditionschef zu Land) und Karl Weyprecht (1838-1881; Chef zur See) gaben der ersten betretenen Insel den Namen des Projekt-Financiers Hans Graf Wilczek (1837-1922). Nach einer zweiten Polarnacht drang Payer mit ein paar Mann 1874 bei bis zu minus 50 Grad (!) weit in den Archipel vor, der nach dem österreichischen Kaiser benannt worden war (erfreulicherweise ohne Kolonialpläne).
Diese Gruppe wie auch die auf dem Schiff Verbliebenen litten unter Entbehrungen. Der Maschinist Otto Krisch starb (geb. ca. 1844); er erhielt das nördlichste Grab der Welt. Am 20. Mai 1874 zogen die 23 Überlebenden zum letzten Kampf los. Mit auf Schlitten geladenen Booten verließen sie den "Tegetthoff" - nach drei Monaten Marsch übers Eis erreichten sie offenes Meer, stießen mit ihren Wasserfahrzeugen auf ein Boot von Bewohnern Russlands, kamen auf einem russischen Schoner in den Hafen Vardø (Norwegen) und meldeten am 4. September 1874 telegraphisch ihre Rettung.
Zurück in der Heimat begann der Reigen der Feiern. Kostprobe vom 15. Oktober 1874 aus der "WZ"-Spätausgabe "Wiener Abendpost": Die Spitzenmeldung galt dem zu Ehren des Linienschiffslieutenants Weiprecht ("i", sic!) und der anderen daselbst anwesenden Nordpolfahrer abgehaltenen Banket in Triest.