Aus der Geschichte Lehren ziehen #
Menschliche Gesellschaften sind zu komplex, als dass ihre Entwicklung vorhersagbar wäre. Aber aus dem Blick in die Vergangenheit kann man mitunter für die Gegenwart (und die Zukunft) lernen. #
Freundlicherweise zur Verfügung gestellt von: DIE FURCHE Donnerstag, 19. Mai 2016
Von
Christian Jostmann
Egal wie der Gewinner der Bundespräsidentenwahl am Sonntag heißen wird: Er wurde nicht von einer der beiden historischen Volksparteien ins Rennen geschickt, und allein das ist ein Novum in der fast hundertjährigen Geschichte der Republik. Entsprechend hoch ist die Erwartungshaltung, vor allem diejenige, die sich an den Kandidaten der FPÖ, Norbert Hofer, richtet. Wobei die Erwartungen gegensätzlich sind: Erhoffen sich seine Wähler die Rettung Österreichs, befürchten andere nach einem Sieg Hofers die „Orbánisierung“ ihres Landes, also einen autoritären Nationalismus à la hongroise. Wieder andere betrachten einen Bundespräsidenten blauer Couleur als Rosskur für das marode politische System – unangenehm zwar, aber zu dessen Regeneration unvermeidlich.
Über diese Erwartungen kann man schwerlich diskutieren, weil ihnen das rationale Fundament fehlt. Menschliche Gesellschaften sind zu komplex, als dass ihre Entwicklung vorhersagbar wäre, zumal eine Prognose den Gang der Ereignisse wiederum beeinflussen kann. Man denke nur an Meinungsumfragen vor Wahlen. Historiker wissen das und sie schauen daher, um sich in der Gegenwart zu orientieren, nicht in die Zukunft, sondern in die Vergangenheit. Nicht dass die Geschichte sich jemals eins zu eins wiederholt, aber Geschichte wird – derweil noch – von Menschen gemacht, und aus dieser Bedingtheit ergeben sich Konstellationen und Wahrscheinlichkeiten, die über die Zeiten relativ stabil sind. Und daher kann man aus ihrer Kenntnis mitunter etwas lernen.
Lehre aus der Weimarer Republik #
So zogen die Schöpfer des Grundgesetzes für die Bundesrepublik Deutschland 1949 eine wichtige Lehre aus der Auflösung der „Weimarer Republik“ (1919-1933), indem sie die Macht des Bundespräsidenten stark einschränkten und festlegten, dass dieser nicht direkt, sondern von den beiden Kammern des Parlaments gewählt werden sollte. Dahinter stand die historische Erfahrung der „Machtergreifung“ Adolf Hitlers. Hitler war ganz ohne gewaltsamen Putsch oder kriegerische Einmischung von außen, sondern völlig verfassungskonform an die Macht gekommen, durch eine Unterschrift des Reichspräsidenten Paul von Hindenburg, der den „Führer“ der NSDAP am 30. Januar 1933 zum Kanzler ernannte.
Der Ernennung Hitlers waren drei krisenhafte Jahre vorangegangen, in denen so genannte Präsidialkabinette mittels Notverordnung regiert hatten. Das heißt, sie stützten sich nicht auf das Parlament, sondern auf den Reichspräsidenten. Der war zwar vom Volk direkt gewählt, mithin demokratisch legitimiert. Aber einmal im Amt konnten seine weit reichenden Befugnisse nur noch von einer starken parlamentarischen Mehrheit kontrolliert werden. Eine solche kam jedoch nach 1930 nicht mehr zustande.
Der Politikwissenschaftler Karl Dietrich Bracher sprach im selben Kontext von der „fundamentalen Verschiedenheit, die eine repräsentativ-pluralistische Parlamentsdemokratie von dem plebiszitär-identitären Demokratiekonzept mit seinen antipluralistischen, antirepräsentativen, schließlich totalitären Konsequenzen trennen“. Das heißt, Demokratie ist nicht gleich Demokratie. Auch Bracher sah in der „ambivalenten Machtstruktur zwischen Parlaments- und Präsidialsystem“ den wesentlichen Schwachpunkt der Weimarer Republik. Er wurde zum Verhängnis, als die Wähler angesichts wirtschaftlicher und politischer Krisen massenhaft das Vertrauen in die parlamentarische Demokratie verloren.
Auf Kosten des Nationalrats #
Eine solche Ambivalenz ist auch im österreichischen Bundesverfassungsgesetz angelegt. Dessen Artikel zu Wahl und Stellung des Bundespräsidenten wurden 1929 novelliert, zu einer Zeit, als auch in Österreich autoritäre Tendenzen auf dem Vormarsch waren. Die Novelle, die auf Betreiben der Christlichsozialen Partei zustande kam und sich in diesem Punkt an die Weimarer Verfassung anlehnte, stärkte die Kompetenzen des Staatsoberhaupts auf Kosten des Nationalrats. Sie ist bis heute gültiges Gesetz, allerdings haben die bisherigen Präsidenten ihr machtpolitisches Potenzial nicht ausgeschöpft, sondern einen „Rollenverzicht“ geübt.
Ob auch der neue Bundespräsident auf die Ausübung seiner Machtfülle verzichten wird, hängt zum einen von der Person des Wahlsiegers und seinem Amtsverständnis ab, zum anderen davon, ob Parlament und Regierung stark und willens genug sind, ihre Rechte zu verteidigen. Wie andere europäische Länder erlebt auch Österreich zurzeit einen rapiden und breiten Vertrauensverlust der überkommenen politischen Institutionen, namentlich der ehemals großen Parteien – alles in allem eine Situation also, die ein neuer Bundespräsident mit entsprechenden Ambitionen durchaus ausnutzen könnte.
Im Vergleich zu Alexander Van der Bellen, dessen politische Entwicklung jeder in Österreich über Jahrzehnte mitverfolgen konnte, ist Norbert Hofer ein unbeschriebenes Blatt. Ist er wirklich der staatstragende Konservative, als der er sich der Öffentlichkeit präsentiert? Wie steht es mit seiner Überparteilichkeit? FPÖ-Anhängern versicherte Hofer im Wahlkampf, er sei „ein Freiheitlicher durch und durch“.
Das „Handbuch freiheitlicher Politik“, an dem Hofer federführend mitgewirkt hat, ist ein Manifest der „Neuen Rechten“, die seit den 1970er Jahren den alten Kampf gegen die liberale Demokratie in neuen semantischen Kostümierungen fortsetzt. Letztlich geht es ihr darum, an die Stelle einer pluralistischen, offenen Gesellschaft freier Individuen, die vor dem Gesetz gleich sind und ihre Interessen friedlich aushandeln, einen ethnisch und kulturell homogenen Nationalstaat zu setzen, der nach innen Harmonie erzwingt, damit er nach außen umso aggressiver auftreten kann. Auch der Rekurs auf die (direkte) Demokratie, der sich in diesem „Handbuch“ gehäuft findet, widerspricht dem nicht. Das Demokratieverständnis dahinter geht vom allgemeinen Willen eines Volkes aus, der sich in Wahlen oder Plebisziten lediglich ausdrückt – im Unterschied zu solchen Ansätzen, die Demokratie als Verfahren begreifen, Interessenkonflikte im parlamentarischen Diskurs zu entscheiden.
Dabei ist die freiheitliche „Bewegung“ nichts weniger als eine geschlossene Kaderpartei, sondern ein schillerndes Sammelbecken alt- und neurechter Ideologien, von nationalliberal bis völkisch, die durch ihr Ressentiment gegen alles Fremde, heute insbesondere die Muslime, geeint werden.
Für den Vorgänger dieses Milieus in der Zwischenkriegszeit hat Armin Mohler den Begriff der „Konservativen Revolution“ etabliert. In seiner paradoxen Zwiespältigkeit trifft er sehr gut den Habitus dieser rückwärtsgewandten, an der Gegenwart leidenden Weltverbesserer. Viele davon waren und sind Fantasten, skurril und harmlos genug, dass sie am Rand einer offenen Gesellschaft ihren Platz haben sollten. Das Problem ist, dass sie in Krisenzeiten ganz anderen Kräften den Boden bereiten, die sich ihrer nach getaner Arbeit entledigen. So haben die Nazis später mit vielen Protagonisten der Konservativen Revolution kurzen Prozess gemacht.
Freund und Feind #
Einer, dem dieses Schicksal erspart blieb, war Carl Schmitt, der „Kronjurist des Dritten Reiches“ und einer der brillantesten politischen Denker seiner Zeit. Er hat wie nur wenige die Schwachstellen demokratischer Verfassungen erkannt und seine Einsichten skrupellos benutzt, um die Demokratie mit zu zerstören. In einem Aufsatz von 1932 definierte Schmitt: „Die spezifisch politische Unterscheidung ist die von Freund und Feind.“ Der Feind aber ist „der andere, der Fremde“, mit dem kein Kompromiss möglich ist, den man nur bekämpfen kann, im Extremfall auf Leben und Tod. Neutralität lässt diese Unterscheidung nicht zu.
Schmitts Begriff des Politischen ist eine Herausforderung, die man heute so ernst nehmen muss wie damals. Auch die parlamentarische Demokratie hat ihre Feinde. Kenntnis der Geschichte kann helfen, sie rechtzeitig zu erkennen.