Gemischte Gefühle gegenüber Österreich#
Martin Karplus: Von den Nazis vertriebener Forscher und Fotograf#
Von der Wiener Zeitung (Mittwoch, 9. Oktober 2013) freundlicherweise zur Verfügung gestellt
Karplus' grundlegende Arbeiten zur Berechnung der Prozesse haben zu wichtigen Forschungswerkzeugen geführt.#
Wien. Mit Martin Karplus wird die Liste der in Österreich geborenen, von den Nazis aber noch im Kindheits- bzw. Jugendalter vertriebenen Nobelpreisträger nach zuletzt Walter Kohn (Chemie-Nobelpreis 1998) und Eric Kandel (Medizin-Nobelpreis 2000) wieder um einen Namen länger. Karplus ist nach eigenen Angaben sogar neben seiner US-Staatsbürgerschaft auch noch österreichischer Staatsbürger - seine wissenschaftliche Karriere machte der theoretische Chemiker aber fernab Österreichs an den Top-Universitäten der USA und Großbritanniens. Insgesamt ist Karplus der 17. Nobelpreisträger, der in den Grenzen des heutigen Österreich geboren wurde.
Karplus wurde am 15. März 1930 in Wien geboren und wuchs in Grinzing auf. Die Wissenschaft wurde dem Spross einer jüdischen Medizinerfamilie praktisch in die Wiege gelegt: Bereits sein Großvater väterlicherseits, Johann Paul Karplus, war Professor an der Medizin-Fakultät der Uni Wien und an der Entdeckung der Funktion des Hypothalamus beteiligt - nach ihm ist heute die Karplusgasse in Wien-Meidling benannt. Sein anderer Großvater, Samuel Goldstern, betrieb eine auf die Behandlung rheumatischer Leiden spezialisierte Privatklinik.
Vater wurde inhaftiert#
Bereits wenige Tage nach dem "Anschluss" verließ Karplus zusammen mit seiner Mutter und seinem Bruder Robert (1927-1990), der später ein bekannter Physiker und Physik-Pädagoge in den USA wurde, Österreich in Richtung Schweiz. Sein Vater wurde in Wien inhaftiert, konnte aber einige Monate später ausreisen und mit der gesamten Familie in die USA emigrieren, wo sie vor fast genau 75 Jahren, am 8. Oktober 1938, ankam.
Gemischte Gefühle gegenüber Österreich#
Erst 45 Jahre später kehrte Karplus an die Stätten seiner Kindheit zurück - das Wohnhaus der Familie war von den Nazis arisiert worden. "Bis heute, mehr als 65 Jahre später, habe ich gemischte Gefühle, wenn ich Österreich besuche, was ich selten tue, weil der Antisemitismus heute genauso verbreitet ist wie damals", so der Wissenschafter 2006 in einer in der "Annual review of Biophysics and Biomolecular Structure" erschienenen Kurz-Autobiographie.
In den USA wuchs Karplus in Brighton im Großraum Boston auf. Er studierte zunächst ab 1947 in Harvard und wechselte später ans California Institute of Technology (Caltech), wo er beim zweifachen Nobelpreisträger Linus Pauling seinen PhD machte. Anschließend forschte er als Postdoc zwei Jahre in Oxford (Großbritannien), bevor er in die USA zurückging und zunächst an der University of Illinois und dann an der Columbia University arbeitete.
1966 kehrte Karplus als Professor an seine Alma Mater in Harvard zurück, wo er nach wie vor forscht. In den 1970er-Jahren wollte er seine Forschungsgruppe nach Paris verlegen, scheiterte aber an administrativen Hürden. Zum Ausgleich schuf sich der frankophile Wissenschafter eine Sommerresidenz in den französischen Alpen. 1996 klappte es dann auch mit dem wissenschaftlichen Teilwechsel. Seit damals ist Karplus außerdem Professor an der Universite Louis Pasteur in Straßburg (Frankreich) und pendelt mit seiner Frau Marci zwischen seinen Wirkungsstätten.
Abseits seiner Forschung widmete sich Karplus auch intensiv der Fotografie: Während seiner Studienzeit zog er in den 1950ern in den Ferien los, um Europa zu erkunden. In den frühen 60er Jahren, als er schon Professor war, folgten Vortragsreisen nach Lateinamerika, China und Japan. Dabei entstanden innerhalb von zwölf Jahren 4.000 Leica-Farbfotos von Straßenszenen. Erst im Sommer dieses Jahres wurde eine Auswahl der Bilder Karplus' in der Französischen Nationalbibliothek ausgestellt.
Kratky: Karplus ist Forscher mit "Zug zum Tor"#
Der Grazer Biochemiker und frühere Präsident des Wissenschaftsfonds FWF, Christoph Kratky, bezeichnete den in Wien geborenen Chemie-Nobelpreisträger, Martin Karplus, als "immens intellektuellen Menschen" und "Wissenschafter mit dem richtigen Zug zum Tor". Kratky hat zwischen 1976 und 1977 als Post-Doc an der Harvard University (USA) mit dem vom Nobelpreiskomitee ausgezeichneten Forscher zusammengearbeitet.
Karplus war damals gleichzeitig in Harvard und in Paris tätig, "ist da hin und her gependelt und war daher für mich nicht so wahnsinnig sichtbar", erinnert sich Kratky im Gespräch mit der APA. Die damalige gemeinsame Arbeit drehte sich um theoretische Kraftfeld-Berechnungen an Proteinen, bewegte sich also im Umfeld dessen, wofür er heute die Auszeichnung zuerkannt bekam.
Karplus' grundlegende Arbeiten zur Berechnung der Prozesse, die in biologischen Makromolekülen stattfinden, hätten zu wichtigen Forschungswerkzeugen geführt, "die überall auf der Welt verwendet werden. Das ist heute das tägliche Brot von vielen Personen, die sich mit der Struktur und Funktion von Biomolekülen beschäftigen", so der Ex-FWF-Präsident.
Karplus sei "eine internationale Figur", und würde als solche natürlich an viele Universitäten eingeladen. "Da war er natürlich auch gelegentlich in Wien, aber seine Beziehungen zu Österreich sind sehr rudimentär", so Kratkys Einschätzung, der sich an eine Begegnung vor mehr als 15 Jahren in Wien erinnert.