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Der Traum von Brot und Krone #

Im Februar/März 1918 marschierten deutsche und österreichisch-ungarische Truppen in die Ukraine ein.#


Von der Wiener Zeitung (6. März 2022) freundlicherweise zur Verfügung gestellt

Von

Christoph Rella


Die sowjetische Delegation mit Leo Trotzki auf dem Bahnhof von Brest-Litowsk (7. Jänner 1918).
Die sowjetische Delegation mit Leo Trotzki auf dem Bahnhof von Brest-Litowsk (7. Jänner 1918).
Foto: unbekannt. Aus: Wikicommons, unter CC BY-SA 3.0

Die Lage in Kiew war aussichtslos. Häuserblock um Häuserblock kämpften sich die russischen Angreifer an jenem 7. Februar 1918 in Richtung Stadtzentrum vor, wo die Regierungsmitglieder der Zentralna Rada unter Mychajlo Hruschewskyj tapfer ausharrten. Wenige Tage zuvor, am 25. Jänner 1918, hatte man hier die Ukrainische Volksrepublik als souveränen und unabhängigen Staat ausgerufen und sich damit die Feindschaft der in Moskau regierenden Bolschewiken zugezogen. Tatsächlich waren weite Teile des Landes schon vor Wochen von Rotgardisten besetzt worden, darunter auch die Stadt Charkiw, Sitz der ukrainisch-bolschewikischen Gegenregierung. Dass die Rada-Regierung noch im letzten Moment aus Kiew entkommen konnte, hatte sie der galizisch-ukrainischen Legion zu verdanken, einer aus österreichischen Soldaten ukrainischer Nationalität bestehenden Truppe, die zuvor aus russischer Kriegsgefangenschaft entkommen war.

Als die Flüchtlinge nach abenteuerlicher Flucht in Lemberg eintrafen, war von der Volksrepublik nicht mehr viel übrig. Dabei hatte der Traum von einer unabhängigen Ukraine nach hunderten Jahren Zarenherrschaft vielversprechend begonnen. Nicht nur glaubte man die Bolschewiken mit der Niederlage gegen die Mittelmächte militärisch und wirtschaftlich am Boden, auch genoss man die Unterstützung und Anerkennung insbesondere Wiens, das den "Ruthenen" nicht nur die Eigenstaatlichkeit, sondern als Goodie noch die Schaffung eines aus der Bukowina und ostgalizischen Territorien zusammengesetzten ukrainischen Kronlandes zugesagt hatte.

Feldzug per Eisenbahn#

Die Bevorzugung der Ukrainer kam zudem bei den zu Jahresbeginn in Brest-Litowsk gestarteten Friedensverhandlungen zwischen Russland und den Mittelmächten zum Ausdruck, wo die Ukraine als eigene Nation akzeptiert wurde und daher einen Sondervertrag erhielt. Der Deal war einfach: Die Ukraine verpflichtete sich unter Artikel VII unter anderem zur Lieferung von zumindest einer Million Tonnen Brotgetreide, im Gegenzug sprachen Berlin und Wien der Volksrepublik die staatliche Anerkennung aus.

Das wollten sich die Bolschewiki, welche die Ukraine als Teil Russlands erachteten, auf keinen Fall gefallen lassen - und es kam zum Bruch. In Brest stand der sowjetrussische Delegierte Leo Trotzki vom Verhandlungstisch auf und ließ die Deutschen und Österreicher mit der Bemerkung, dass nun "weder Krieg noch Frieden" herrsche, verdutzt zurück. Die Gesandten konnten es nicht fassen. "Die russische Delegation spricht mit uns, als ob sie siegreich in unserem Lande stünde und uns Bedingungen diktieren könnte", polterte der deutsche Bevollmächtigte Max Hoffmann.

Dabei übersah der General, dass die Bolschewiki anderenorts wohl "siegreich" waren. Noch am Tag, als die Ukrainer die Präliminarien für ihren Vertrag - "Brotfrieden" genannt - unterzeichneten, rückte die Rote Armee in Kiew ein. Der US-Historiker Timothy Snyder brachte die absurde Situation auf den Punkt: "Die ukrainischen Delegierten hatten internationale Anerkennung für einen Staat gewonnen, der sich nicht gegen die Bolschewiken verteidigen konnte, dessen Grenzen die Polen vor den Kopf stoßen würden und der sich in die inneren Angelegenheiten der Habsburger einmischen konnte."

In den Staatskanzleien in Berlin und Wien löste der Fall Kiews Entsetzen aus. Nicht nur fürchtete man den Ausfall eines nützlichen (und militärischen) Verbündeten, sondern auch ein Ausbleiben der vertraglich festgelegten Getreidelieferungen. Besonders auf dieses Korn angewiesen war man in Österreich-Ungarn, das seit Monaten mit Hungerrevolten und Streiks zu kämpfen hatte. Als die Ukrainer die Mittelmächte am 16. Februar 1918 um Intervention baten, ließen sich das die Deutschen, die ihre Divisionen bereits ins Baltikum und nach Weißrussland in Marsch gesetzt hatten, nicht zwei Mal sagen und besetzten Kiew - und das fast kampflos.

General Max Hoffmann (1914).
General Max Hoffmann (1914).
Foto: Bundesarchiv, Bild 146-2008-0278. Aus: Wikicommons, unter PD

Nun war das, was sich Ende Februar in der Ukraine abspielte, in Wirklichkeit "ein Feldzug per Eisenbahn" (Herfried Münkler). General Hoffmann sollte den Einmarsch später als den "komischsten Krieg", den er je erlebt habe, bezeichnen. "Man setzt eine Hand voll Infanteristen mit Maschinengewehren und einer Kanone auf die Bahn und fährt los bis zur nächsten Station, nimmt die, verhaftet die Bolschewiki, zieht mit der Bahn weitere Truppen nach und fährt weiter", notierte er fast amüsiert. "Das Verfahren hat jedenfalls den Reiz der Neuheit."

Zehn Tage später, am 28. Februar, rückte auch die neu aufgestellte k.u.k. Ostarmee in die Ukraine ein und besetzte unter anderem die Hafenstadt Odessa. Für die zeitliche Verzögerung verantwortlich war Kaiser Karl persönlich, der den Einmarschbefehl aufgrund vertragsrechtlicher Bedenken verweigert hatte und schließlich von seinem Generalstabschef Arthur Arz, der die Ukraine nicht den Deutschen überlassen wollte, vor vollendete Tatsachen gestellt wurde. Bald vor vollendete Tatsachen gestellt wurden im Übrigen auch die Bolschewiken. Sie mussten am 3. März 1918 in Brest einen harschen Diktatfrieden unterzeichnen und den Verlust von 26 Prozent des Territoriums, 27 Prozent des anbaufähigen Landes sowie 26 Prozent des Eisenbahnnetzes akzeptieren. Der größte Teil der verlorenen Gebiete und Infrastruktur entfiel auf die Ukraine.

Besatzungszonen#

Am 28. März schlossen die deutsche und k.u.k. Oberste Heeresleitung ein "Übereinkommen zur Festlegung von Einflusssphären" in der Ukraine. Während die Gouvernements Taurien (Krim), Kiew, Poltava, Chernigow, Charkiw und der Nordosten Wolhyniens an das Deutsche Reich fielen, wurden die Gouvernements Podolien, Ekaterinoslaw, Cherson und der Südwesten Wolhyniens Österreich zugeschlagen. Für Nikolaew, Mariupol und Rostow sah man eine gemeinsame Verwaltung vor, wobei Mariupol und die Krim formell k.u.k. Oberbefehl unterstellt waren. Das Oberkommando über die österreichisch-ungarische Besatzungsarmee hatte bis 16. Mai 1918 Feldmarschall Eduard von Böhm-Ermolli inne, danach übernahm Alfred Krauß, General der Infanterie, den Oberbefehl in der immer enger werdenden Südukraine.

Sommer 1918: Besetzung der Ukraine durch Mittelmächte der k.u.k. Ostarmeee im Hafen von Odessa
Sommer 1918: Besetzung der Ukraine durch Mittelmächte der k.u.k. Ostarmeee im Hafen von Odessa.
Foto: unbekannt. Aus: Wikicommons, unter PD

Es ist ein wenig bekanntes Detail, dass sich neben Deutschland und Österreich-Ungarn auch Bulgarien, Rumänien und die alliierten Westmächte um ein Stück des ukrainischen Kuchens bemühten. Während das Königreich Rumänien, obwohl Kriegsverlierer, nach dem Frieden von Bukarest im Mai 1918 Bessarabien inklusive dem ukrainischen Budschak zugesprochen erhielt, hatten sich Großbritannien und Frankreich in einem bereits am 23. Dezember 1917 geschlossenen Geheimvertrag über eine Aufteilung Südrusslands geeinigt. Darin wurden die Ukraine, die Krimhalbinsel und Bessarabien zu französischen und der Donbass, Armenien, Georgien sowie Kurdistan zu britischen Einflussgebieten erklärt. Im Dezember 1918 landete tatsächlich ein alliiertes Kontingent, unterstützt von einem französischen Flottenverband, in Odessa, musste sich aber im April 1919 zurückziehen.

Insgesamt standen im Frühjahr 1918 bis zu eine Million Soldaten aus fünf Ländern in der Ukraine, wobei der Löwenanteil der Besatzung von den 500.000 deutschen und 250.000 österreichisch-ungarischen Rekruten getragen wurde. Nachdem die Bolschewiken vertrieben waren, bestand ihre Aufgabe vor allem darin, die im Brester Vertrag von der Ukraine zugesagten Getreidemengen einzutreiben, allerdings stießen die Besatzer bald auf unüberwindbare Hürden. Zum einen konnten die ukrainischen Bauern die Forderungen nach Brotgetreide nicht sofort erfüllen, zum anderen fehlten die Kapazitäten für den Abtransport. Bis Dezember 1918 wurden lediglich 138.000 Tonnen verladen, wovon 129.000 die Grenze passierten und nur rund 49.000 Tonnen letztendlich am Ziel ankamen.

Um die Produktion zu steigern, setzten Deutsche und Österreicher auf gewaltsame Requirierungen, was dazu führte, dass die Bauern ihr Korn versteckten, sich bolschewikischen Partisanen anschlossen und zu den Waffen griffen. Als etwa am 31. Mai habsburgische Soldaten im Dorf Hulai Pole von Partisanen gefangen genommen und erschossen wurden, fielen der darauffolgenden Strafmaßnahme 49 Personen zum Opfer. Ob sie etwas mit dem Vorfall zu tun hatten, ist ungeklärt. Sowjets und Nazis sollten in späteren Jahren nicht anders verfahren.

Erzherzog Wilhelm#

Um der Besatzung zusätzliche Legitimation zu verleihen, setzten die Mittelmächte in Kiew eine Marionettenregierung unter der Führung von Pawlo Skoropadskyj ein, der sich den aus dem Mittelalter stammenden Fürstentitel Hetman anlegte und an die Spitze des Vasallenstaates Ukrainska Derzava setzte. Von den Plänen einer austro-ukrainischen Lösung, also der Errichtung eines Königreichs mit einem Habsburger an der Spitze, wie das auch mit Blick auf Polen diskutiert wurde, hielt man beim deutschen Bündnispartner nichts.

Der österreichische Erzherzog Wilhelm Franz (1895-1948), Prätendent für den noch inexistenten Thron der Ukraine.
Der österreichische Erzherzog Wilhelm Franz (1895-1948), Prätendent für den noch inexistenten Thron der Ukraine.
Foto: unbekannt. Aus: Wikicommons, unter PD

So notierten Diplomaten und Militärs, dass "der Gedanke einer Personalunion der Ukraine mit Österreich in den verschiedenen österreichischen Köpfen herumspuke" und die k.u.k. Monarchie in der Südukraine "weitgesteckte Ziele" verfolge. An der Spitze der Bewegung stand der junge Erzherzog Wilhelm aus der polnischen Linie der Habsburger. Ende März 1918 landete er mit seiner "Kampfgruppe Erzherzog Wilhelm" in Odessa und vereinigte sie mit den Soldaten der Ukrainischen Legion, die ihm entgegengeeilt war.

Nur erwies sich die aus Intellektuellen, älteren Männern und Jugendlichen zusammengewürfelte Truppe als zu schwach, um in dem einem riesigen Heerlager ähnelnden Land einen Unterschied zu machen. Zwar gelang es dem Erzherzog, Kontakte zur orthodoxen Kirche und den Kosaken herzustellen, allerdings holte er sich bei Skoropadskyj sowie den deutschen Machthabern in Kiew eine Abfuhr. Daran sollte auch ein persönlicher Besuch bei Kaiser Wilhelm in dessen Hauptquartier im belgischen Spa nichts ändern.

Als Wilhelm der Ukraine am 9. Oktober den Rücken kehrte, stand die k.u.k. Monarchie und damit auch das ukrainische Projekt vor dem Zusammenbruch. In Kiew wurde nach dem Abzug der Mittelmächte Skoropadskyj gestürzt und die Volksrepublik unter Symon Petljura wiederhergestellt.

Sie bestand kaum länger als ein Jahr. Bis 1920 eroberten die Bolschewiki die gesamte Ukraine zurück und riefen die Sowjetrepublik aus. Präsident Petljura gründete eine Exilregierung, die 72 Jahre existieren sollte. 1992 erkannte ihr letzter Präsident Mykula Plawjuk die neu gegründete Ukraine als legalen Nachfolger der Volksrepublik offiziell an.

Christoph Rella, geb. 1979, Autor und Historiker, arbeitet als Redakteur bei der "Wiener Zeitung".

Wiener Zeitung, 6. März 2022