Wir freuen uns über jede Rückmeldung. Ihre Botschaft geht vollkommen anonym nur an das Administrator Team. Danke fürs Mitmachen, das zur Verbesserung des Systems oder der Inhalte beitragen kann. ACHTUNG: Wir können an Sie nur eine Antwort senden, wenn Sie ihre Mail Adresse mitschicken, die wir sonst nicht kennen!
unbekannter Gast

Verdrängen und Erinnern#

Paul Lendvais neues Buch legt das Allzumenschliche im Umgang mit Vergangenheit offen#


Mit freundlicher Genehmigung der Wiener Zeitung, Dienstag, 23. April 2013

Von

Kathrin Lauer


Paul Lendvais
Paul Lendvai erzählt aus seinem ereignisreichen Leben.
© apa

Ein Satz Paul Lendvais reizt zum Widerspruch: "Ich persönlich bin übrigens immer davon ausgegangen, dass ich von Leuten, die heute, sagen wir, siebzig oder achtzig Jahre alt sind, nicht mehr wissen will, was sie oder ihre Familie während des Zweiten Weltkriegs getan haben, denn gänzlich unbefleckt ist offensichtlich kaum einer geblieben."

Lendvai bezieht sich damit in seinem autobiographischen Buch "Leben eines Grenzgängers" auf die Affäre um den früheren FPÖ-Obmann Friedrich Peter, wegen dessen Nazi-Vergangenheit Österreichs SPÖ-Bundeskanzler Bruno Kreisky und der Nazi-Jäger Simon Wiesenthal in den 1970er und 1980er Jahren heftig gestritten haben. Kreisky hatte eine Koalition mit der FPÖ erwogen und nahm Peter gegen Wiesenthals Anschuldigungen in Schutz.

Peter hatte einer SS-Brigade angehört, die 1941 hinter der Front planmäßig hunderttausende Juden erschossen hat. Dass er persönlich an diesem Massenmord beteiligt gewesen sei, hat Peter (1921-2005) stets bestritten. Jetzt heißt es in Lendvais Buch: "Über Friedrich Peter dachte ich, was immer er als Zwanzigjähriger gedacht oder getan hat, er ist ein überzeugter und zuverlässiger Demokrat geworden."

Dies klingt merkwürdig. Immerhin hat Lendvai mit seinem Förderer Kreisky leidenschaftlich gerade wegen dessen Bewertung der Nazi-Zeit gestritten, wie er in diesem Buch berichtet. Zudem hat der heute 83-jährige, aus Ungarn stammende Vollblut-Journalist und Osteuropa-Spezialist gleich zwei Diktaturen durchlitten. Als jüdischstämmiger Teenager in Budapest ist er der Nazi-Mordmaschinerie entkommen, 1957 floh er vor dem Stalinismus in den Westen.

Hinzu kommt, dass Lendvai in eigener Sache schonungslos ist: Im Gespräch mit der Journalistin Zsófia Miháncsik, das diesem Buch zugrundeliegt, spricht er ausführlich über seine jugendliche Begeisterung für den Kommunismus, die er heute als "Blindheit" verurteilt. Er räumt ein, dass er die Willkür der Stalinisten erst erkannt habe, als diese ihn selbst unschuldig ins Gefängnis warfen. Und dies ist nicht das einzige Thema der Selbstkritik.

In seiner Bewertung von Moral in der Politik nimmt Lendvai offenbar Maß am aktuellen EU-weiten Negativ-Pol Ungarn. Dort ist der rechtsnationale Ministerpräsident Viktor Orbán dabei, die Demokratie abzubauen und lässt - je nach außenpolitischer Konjunktur einmal weniger, einmal mehr - die Rechtsradikalen ihr Unwesen treiben. Besonders ärgert Lendvai, "dass frühere kommunistische Funktionäre, die 1989 ihr Mäntelchen geschwind in den Wind gehängt haben, heute auf der rechten oder sogar der extrem rechten Seite ihr trübes Süppchen kochen". Man fragt sich: Was ist schlimmer? Ein zum Demokraten mutierter Nazi und mutmaßlicher Mörder in einer modernen Wiener Regierung - oder Ex-Kommunisten, die heute in Ungarn das braune Weltbild wiederbeleben?

Lendvai äußert sich hier nicht zum ersten Mal über Orbán, Kreisky oder die FPÖ. Neu ist die lockere Kombination aus Historiengemälde und politischem Plädoyer mit so mancher Anekdote über seinen Weg zum Journalisten bei der "Financial Times" und beim ORF. Er rechnet zudem mit einer unlängst gegen ihn gerichteten Verleumdungskampagne regierungstreuer ungarischer Medien ab.

Tiefer Schmerz nach Besuch im KZ Auschwitz#

Lesenswert ist das Buch auch, weil es das Allzumenschliche im Umgang mit Schmerz und Vergangenheit offenlegt: Was verdrängt man, wie kommen Erinnerungen wieder hoch? Ergreifend schildert Lendvai seine Reaktion auf die Ermordung der Familie seiner Mutter durch die Nazis. Obwohl er lange vorher davon wusste, kam der tiefe Schmerzausbruch darüber erst in den 1970er Jahren bei einem Besuch des KZ Auschwitz.

Soll man wirklich nicht wissen wollen, was ein heutiger Greis während der Nazi-Zeit getan hat? Verdrängung, um des lieben politischen Friedens Willen? Lendvai mag dies manchmal denken - aber sein Buch sagt das Gegenteil.

Sachbuch#

Leben eines Grenzgängers. Erinnerungen.

Paul Lendvai - aufgezeichnet im Gespräch mit Zsófia Mihancsik

Kremayr & Scheriau, 255 Seiten, 24 Euro

Wiener Zeitung, Dienstag, 23. April 2013