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Vernichtung durch Arbeit#

Am 5. Mai 1945 wurde das KZ Mauthausen von US-Truppen befreit. Mittlerweile kennt man nicht nur die Opferzahlen, sondern auch die geschäftsmäßigen "Kalkulationen" der "SS". – Eine Bilanz des Grauens#


Von der Wiener Zeitung (Freitag, 30. April 2010) freundlicherweise zur Verfügung gestellt.

Von

Clemens M. Hutter


KZ Mauthausen
Das KZ Mauthausen einen Tag nach der Befreiung, am 6. Mai 1945.
© Wiener Zeitung / Foto: Wikipedia

Drei Tage vor der Kapitulation Hitlerdeutschlands befreiten US-Truppen am 5. Mai 1945 das KZ Mauthausen – als letztes von 55 „Stammlagern“, sieben Vernichtungslagern und annähernd 2000 Außenlagern der SS. Drei Wochen später starb der Reichsführer-SS Heinrich Himmler durch Selbstmord mit Zyankali an einer britischen Kontrollstelle. Als abgerissener Landser mit Augenbinde getarnt, wurde er erkannt.

Es vergingen aber noch Monate, ehe die Mordbilanz der SS klare Konturen gewann: Fünf Millionen Juden, 2,5 Millionen Polen, rund eine Million Zivilisten in Osteuropa, 520.000 Sinti und Roma, 480.000 russische Kriegsgefangene und 500.000 deutsche KZ-Häftlinge wurden „verschrottet“, wie das im SS-Jargon hieß; zusammen also rund zehn Millionen Menschen. Statistisch ergibt das 2300 Morde täglich.

Die Deutschen ahnten zwar, was hinter dem allgegenwärtigen Schreckensbegriff „KZ“ steckte, doch den perfide gewobenen Schleier strikter Geheimhaltung durchschauten sie nicht. Auch kannten nur wenige jenes Gesetz von 1936, das Himmler freie Hand zu totalitärer Willkür gab: „Der Reichsführer-SS kann die zur Aufrechterhaltung der Sicherheit und Ordnung notwendigen Maßnahmen auch außerhalb der gesetzlichen Grenzen treffen“.

Man wusste allerdings, dass der "Sicherheitsdienst" (SD) der SS und die Gestapo als "Tast- und Sinnesorgan am Körper des Volkes" fungierten. 240.000 Spitzel lauerten allerorten. Geheim blieb hingegen, dass die 65.000 zum Schweigen verpflichteten KZ-Wächter (nach dem Schmuck ihres Kragenspiegels SS-„Totenkopfverbände“ genannt) unter Androhung schärfster Strafen dem Befehl gehorchten, "in Dienstsachen unter keinen Umständen, auch nach meinem Ausscheiden aus dem Dienst, außen stehenden Personen Mitteilungen über den Verlauf, die Abwicklung oder Vorkommnisse zu machen". Den wenigen entlassenen KZ-Häftlingen drohte die Rückkehr in den Terror-Archipel, falls sie auch nur ein Wörtchen über das KZ verlören.

Himmler konnte also süffisant witzeln: "Ich weiß, dass es manchen Leuten schlecht wird, wenn sie unseren schwarzen Rock sehen. Wir haben Verständnis dafür und erwarten nicht, von allzu vielen geliebt zu werden".

Die SS ("Schutzstaffel") entstand 1923 als 280 Mann starke "Stabswache" zum Schutz Hitlers und löste sich erst ab 1929 unter Himmlers Führung langsam aus dem Kommando der SA ("Sturmabteilung"). Sie distanzierte sich von den SA-Rabauken durch strengste Auswahl, elitäre Arroganz und absolute Disziplin. So mauserte sie sich zur Garde von Männern mit blindem Gehorsam und unsentimentaler Gewalttätigkeit – auf Hitler vereidigt.

Das erste "reguläre" KZ#

Sofort nach Hitlers Machtübernahme am 30. Jänner 1933 rückte Himmler zu Münchens Polizeichef auf und eröffnete schon am 20. März in einer ausgedienten Pulverfabrik bei Dachau das erste „reguläre“ KZ für 8000 „Politische“ aller Couleur. In diesem Prototyp für alle KZ herrschten hinter elektrischem Stacheldraht und dichtem Nebel von Geheimnis und Gerücht das „Standrecht“ und die Norm, dass „die Gerichtsbarkeit ausnahmslos durch den Kommandanten ausgeübt wird“ – bis hin zum Mord: Wer politisch aufwiegelt, gegnerische „Greuelpropaganda“ erzählt oder den Gehorsam verweigert „wird nach revolutionärem Recht als Meuterer auf der Stelle erschossen“. Zum Empfang pflegte der Dachauer Lagerkommandant die Verhafteten anzubrüllen: „Vergesst eure Frauen und Kinder, ihr werdet hier wie Hunde verrecken!“ Diesen rechtsfreien Raum erzwangen die Nazi am 23. März mit blankem Terror im Parlament durch das wichtigste aller Nazi-Gesetze, das „Ermächtigungsgesetz“: Die Regierung kann Gesetze erlassen, die von der Verfassung abweichen. Fortan stieß die Willkür der braunen Diktatur an keine Grenze mehr, und die SS überzog Deutschland ungehindert mit einem KZ-Netz.

Nachschub für die KZ besorgte die aus der politischen Polizei geformte Gestapo, deren Führung Himmler 1934 an sich gerissen hat. Ihre Hauptaufgabe lautete, Staatsfeinde aufzuspüren: Juden, Freimaurer, Marxisten, „Meckerer“, Homosexuelle und „Gewohnheitsverbrecher“. Die Leistungsfähigkeit dieser allgegenwärtigen Geheimpolizei ist daran zu ermessen, dass ihr Budget zwischen 1933 und 1937 nach heutigem Geldwert von vier auf 160 Millionen Euro anwuchs. In ihrem Bestreben, sich in Eigenregie zu finanzieren, entdeckte die SS im April 1938 eine Goldgrube. Die großspurigen „Führerbauten“ benötigten nämlich Ziegel und Granit – und die SS lieferte diese Baustoffe aus ihren eben im Bereich der KZ gegründeten Ziegeleien und Steinbrüchen. Jener in Mauthausen erwies sich als besonders gewinnträchtige Beute aus dem „Anschluss“ Österreichs.

In Mauthausen bauten aus Dachau überstellte Häftlinge im Sommer 1938 ein KZ, in dem bis 1945 insgesamt 200.000 Menschen gequält wurden. Sie mussten Granitquader ausbrechen und auf dem Rücken über die berüchtigte Stiege neben einer 40 Meter hohen Felswand schleppen. Tausende von ihnen brachen unter der Traglast tot zusammen oder wurden einfach über die Felswand in den Tod gestoßen – insgesamt rund 100.000 Menschen. Im SS-Jargon hieß das „Vernichtung durch Arbeit“. Die Gewinnsucht der SS stand ihrer Mordlust kaum nach. Im erste Kriegsjahr setzten vier SS-Sklavenbetriebe knapp über 1,3 Mrd. Euro (Geldwert 2010) um, davon ein Viertel im Frauen-KZ Ravensbrück für die Bekleidung der Waffen-SS. Allein im KZ Buchenwald lukrierte die SS 1939 aus dem Sklavenverleih an Rüstungsbetriebe knapp 100 Mio. Euro.

Zehn Tage vor dem Überfall auf Polen (1939) eröffnete Hitler seinen Kommandeuren, was Osteuropa blüht: „Es werden sich da Dinge ereignen, die nicht den Beifall deutscher Generäle finden würden, deshalb wird nicht das Heer mit den notwendigen Liquidationen belastet, sondern die SS wird das vornehmen“. Er beauftragte Himmler, „volksfremde Bevölkerungsteile“ zu liquidieren, sofern sie „eine Gefahr für die deutsche Volksgemeinschaft bilden“.

Das erledigten erst in Polen und dann in Russland die SS-Einsatzgruppen gemäß dem Befehl Hitlers, hinter der Ostfront „kommunistische Funktionäre und Aktivisten, Juden, Zigeuner, Saboteure und Agenten grundsätzlich ohne weiteres Verfahren hinzurichten“. Ende 1942 meldete Himmler seinem Führer den Vollzug: Allein in Russland wurden 960.000 Juden und andere Reichsfeinde liquidiert.

Geldsegen für die SS#

Die SS besorgte auch die „Verwertung des beweglichen Besitzes“ der in Polen ermordeten Juden. Einer der SS-„Endlöser“ rechnete nach der Vergasung der ersten 1,5 Millionen zu Weihnachten 1943 vor: „Der Gesamtwert der angefallenen Gegenstände ist ungefähr 742 Mio. Euro (Geldwert 2010). Dies ist ein Mindestwert, sodass der Gesamtwert vermutlich das Doppelte beträgt – abgesehen von Textilien, wovon allein über 1900 Waggons der deutschen Industrie zugeführt wurden“. Damit die SS ohne moralische Bedenken den „Lebensraum im Osten“ beschaffen könne, rückte die SS-Lehrschrift „Der Untermensch“ die Slawen in das rechte braune Licht: „Eine scheinbar völlig gleich geartete Naturschöpfung, aber eine furchtbare Kreatur mit menschenähnlichen Gesichtszügen – geistig, seelisch jedoch tiefer stehend als jedes Tier“.

Einen weiteren Geldsegen verschaffte Hitler 1942 der SS mit dem Befehl, die Juden in der Rüstungsindustrie durch andere Arbeitskräfte zu ersetzen. Das passte Himmler bestens ins Konzept: Weil es zu wenige Arier gab, denn 14 Millionen Männer waren zum Kriegsdienst befohlen worden, sammelte er die entlassenen „Rüstungsjuden“ in den polnischen Vernichtungslagern und ersetzte sie durch slawische "Untermenschen". Auf diese Weise sicherte er den Geschäftsgang der SS: „Die Wehrmacht soll ihre Bestellungen an uns geben, und wir garantieren ihr den Fortgang der Lieferungen“. Himmlers Motto: "Wie es Russen und Tschechen geht, interessiert mich nur soweit, als wir sie als Sklaven für unsere Kultur brauchen".

Doch nicht die Nazi-Kultur bedurfte ihrer, sondern die Rüstungsindustrie. Beim "Sklaven-Leasing" verrechnete die SS im Schnitt (Geldwert 2010) "pro Tag für Facharbeiter 24 Euro, für Hilfsarbeiter 16 Euro". Pro Tag bedeutete gemäß einem Erlass Himmlers mindestens elf Stunden Arbeit. Den Ertrag der Sklavenarbeit verbuchte die SS so: Tageslohn minus 2,25 Euro für Ernährung und 40 Cent an "Bekleidungsamortisation" macht „netto“ 21,35 bzw. 13,35 Euro. Bei der SS-amtlich auf neun Monate kalkulierten "Vernichtung durch Arbeit" ergab das (bei einem Mittelwert von 17,35 Euro täglich) 4684 Euro pro SS-Sklaven. Zudem verrechnete die SS noch die Erlöse aus Zahngold, Kleidern und Wertsachen minus acht Euro "Verbrennungskosten" der Leichen. Das steigerte den "Gewinnwert" pro ermordeten Sklaven mindestens um 100 Euro. Mit der Zeit dämmerte Himmler, dass die SS-offizielle Bemessung der Leistungsfähigkeit ostischer Sklaven nicht stimmte. Gemessen an "deutscher Tüchtigkeit" taxierte die SS jene der Polen auf 65 bis 70 und der Russen auf 40 bis 50 Prozent. Der infame Trick dieser Einstufung: Der Arbeitgeber hatte auch für den leistungsschwächsten Russen die 100 Prozent der deutschen Tüchtigkeit zu bezahlen. Den Unterschied von 30 bis 50 Prozent Leistungsfähigkeit strich die SS ein. 1943 endete Hitlers Kriegsglück in Stalingrad und in El Alamain. Die Verluste stiegen und die Kriegswirtschaft bedurfte mehr denn je der SS-Sklaven. Da bedauerte der Geschäftemacher im Rassenfanatiker Himmler, dass "wir die Masse Mensch (im Osten) nicht so gewertet haben, wie wir sie heute als Rohstoff werten". Also müssen diese "Untermenschen" fortan zur theoretischen Tagesration von 1200 Kalorien mehr Brot bekommen, weil "auch eine Maschine nur das zu leisten vermag, was ich ihr an Treibstoff zur Verfügung stelle".

Der rücksichtslose Verschleiß von Häftlingen hielt die Todesquote bei 60 Prozent. Diese "Vernichtung durch Arbeit" brachte der SS bis Kriegsende einen Gewinn von mindestens 40 Mrd. Euro! Folgerichtig beurteilte das Nürnberger Kriegsverbrechertribunal die SS in allen ihren Gliederungen als verbrecherische Organisation. Das Kürzel "SS" aber ging als schlimmstes Kainsmal in die Weltgeschichte ein.

Clemens M. Hutter

Clemens M. Hutter, geboren 1930, war bis 1995 Ressortchef Ausland bei den "Salzburger Nachrichten" und ist Autor von bisher rund 45 Büchern

Wiener Zeitung, Freitag, 30. April 2010


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