Wir freuen uns über jede Rückmeldung. Ihre Botschaft geht vollkommen anonym nur an das Administrator Team. Danke fürs Mitmachen, das zur Verbesserung des Systems oder der Inhalte beitragen kann. ACHTUNG: Wir können an Sie nur eine Antwort senden, wenn Sie ihre Mail Adresse mitschicken, die wir sonst nicht kennen!
unbekannter Gast

Die Versuchung#


Von

Wilhelm Gatzen

Aus: Gedanken zu Glaube und Zeit Nr. 251/2018


Die Versuchung – „Gott, ein Fallensteller?“

war das Thema einer Diskussion am Montag, dem 22. Januar in der Karl-Rahner-Akademie in Köln (http://www.kath.de/akademie/rahner/index.htm). Ich war mit meiner Frau dabei. Es ging um die rechte Übersetzung des Vaterunser-Verses „et ne nos inducas in tentationem“. Angestoßen war das Ganze durch die neue Übersetzung ins Französische, die ab 1. Advent 2017 genutzt wird und die Bemerkung von Papst Franziskus dazu, die deutsche Übersetzung sei auch nicht optimal.

Wir waren mit dem Verlauf des Gespräches, das von Herrn Klauke moderiert wurde, nicht so sehr einverstanden. Es fehlte wieder einmal ein „Anwalt der Zuhörer“, der kritisch hätte eingreifen können. Ich habe mich mit dem Thema auch vorher schon auseinandergesetzt. So erschien in der Kölner Kirchenzeitung (Ausgabe 2/2018 vom 12.01.2018, Seite 50) ein Leserbrief von mir, den ich hier wiedergebe.

„Prüft alles und behaltet das Gute!“ (1 Thess 5,21). So sagt der Apostel Paulus. Es gibt immer wieder Leute, die machen daraus: „Wir prüfen nichts und behalten das Alte.“ – So geht das auch denen, die meinen, das Vaterunser bedürfe keiner neuen Übersetzung. Jesus aber sagt dazu: Wenn Ihr betet, dann sagt nicht einfach fromme Sprüche auf! Denkt darüber nach, was Ihr betet!“ (frei nach Mt 6,7).

Meist wird übersehen: Jesus fasst nur teils uralte Anrufungen aus damals bekannten Gebeten neu zusammen. „Geheiligt werde Dein Name! Gott Vater im Himmel!“ Das taucht schon 2000 Jahre vor der Zeit Jesu bei den Gebeten der Assyrer und Babylonier an ihre Götter auf. Vor der Zeit des Salomo gab es das in den ersten Versionen des Kaddisch, eines Gebetes, das von den Juden häufig gebetet wurde. In den Überlieferungen aus uralten Kulturen und über verschiedene Sprachen gab es vermutlich auch so Übersetzungsfehler, wie sie im Kinderspiel „Stille Post“ vorkommen. Es ist daher sicher richtig, über die Worte des Vaterunser immer mal wieder sorgfältig und behutsam nachzudenken und die alten Formeln neu für uns zu erschließen.

Ich möchte das hier noch etwas vertiefen. Zur Zeit Jesu war die Gegend am östlichen Mittelmeer, wo sich heute die Staaten Israel, Libanon, Jordanien und Syrien befinden, schon für 2000 Jahre der Schmelztiegel der Völker und Kulturen gewesen. Vom Euphrat und Tigris kamen die Babylonier und Assyrer, aus Zentralanatolien die Hethiter und vom Nil die Heere Ägyptens. Jeder brachte seine eigenen Götter mit. Die Menschen aus dem Volk Israel vermischten sich ebenso mit jenen, die da als Eroberer kamen.

Als ein Beispiel von vielen sei die Geschichte von Num 25,1-18 angeführt. Die Fremden brachten nicht nur ihre Götter, sondern auch die Gebete zu diesen Göttern mit. Zu den bekanntesten Gebeten der 1000 Jahre vor Jesus gehört das Kaddish. Es gibt dieses Gebet in unterschiedlichen Versionen und Überlieferungen. Da findet sich beispielsweise: תְִגַַָדָל וְתְִַקַדָשְ שְְֵמהָ רַבָָא. (Das ist der Sprache nach Aramäisch!), in Deutsch: Erhoben und geheiligt werde sein großer Name! oder: ִֵהָָ וְיְַמלִיךְ ַמלְכו deutsch: sein Reich erstehe!

Der Text des Vaterunser ist nicht original von Jesus. Er fasst nur altbekannte Gebetstexte neu zusammen. Dabei gibt es in der Bibel schon 2 Versionen, die sich unterscheiden. Siehe einmal bei Lk 11,1-4 und bei Mt 6,7-15! – Der Text in der Didaché lautet: „Vater unser, der Du bist in dem Himmel, geheiligt werde Dein Name, zukomme uns Dein Reich, Dein Wille geschehe wie im Himmel also auch auf Erden; unser tägliches Brot gib uns heute, und vergib uns unsere Schulden, wie auch wir vergeben unseren Schuldigern, und führe uns nicht in Versuchung, sondern erlöse uns vom Übel; weil Dein ist die Macht und die Ehre in Ewigkeit. Dreimal im Tag betet so!“ – Hinweis: Die Didaché, später auch Zwölfapostellehre genannt, ist eine Schrift, die vermutlich in der zweiten Hälfte des 1. Jahrhunderts entstand. Aus der Reihe der kanonischen Schriften wurde sie wahrscheinlich von Irinäus von Lyon (gest. 202) herausgekegelt; der Text wurde erst 1873 wieder entdeckt. – Es kann davon ausgegangen werden, dass die beiden Evangelisten Lukas und Matthäus den Text kannten.

Es wurden also schon immer im Großraum Jerusalem viele verschiedene Sprachen gesprochen. Das sieht man auch an den Texten des neuen Testaments. Jesu Muttersprache war Aramäisch. Das hat er in seiner Familie, mit seinen Eltern und Geschwistern und den Dorfbewohnern gesprochen. Da ist dann aber die Geschichte in Lk 4,17-21: Jesus liest in der Synagoge seiner Heimatstadt im Gottesdienst vor. In Lk 4 ist zitiert Jes 61,1. Aus meiner Sicht liegt aber nahe, dass den Zuhörern Jesu auch die Verse Jes 61,2-10 bekannt waren. Zur Zeit Jesu waren die ältesten Jesaja-Texte mindestens 700 Jahre alt und in Hebräisch geschrieben. Das könnte sich vom Hebräisch der Zeit Jesu durchaus so weit unterschieden haben wie die Texte des Walter von der Vogelweide (etwa 1170 bis 1230) aus dem 13. Jahrhundert vom Deutsch unserer Zeit.

Wie sind die mit diesem Sprachproblem umgegangen? Wie weit kannte Jesus dieses Hebräisch? Im Jahr 333 vor Chr. eroberte Alexander der Große die Länder am Ostrand des Mittelmeeres. Die spätere Heimat Jesu blieb bis 63 vor Chr. unter der Herrschaft von Fürsten, die alle griechisch sprachen. 63 vor Chr. eroberte Pompeius das Land. Palästina wurde römische Provinz. Zur Zeit Jesu sprach die herrschende Schicht im Lande griechisch. Auch viele Juden, die ausgewandert waren, vor allem nach Ägypten, sprachen das Hebräisch der alten Schriften nicht mehr. Daher wurde um 300 vor Chr. die hebräische Bibel ins Griechische übersetzt. Diese Übersetzung heißt die Septuaginta. – Die römischen Besatzer sprachen aber Latein.

Alle 27 Bücher des Neuen Testaments sind in Griechisch verfasst. Es gibt nur wenige Einschlüsse in Aramäisch. Beispiel: Mt 27,46 und Mk 15,34. – Die Menschen, für die die Bücher des Neuen Testaments geschrieben wurden, müssen also schon überwiegend gut Griechisch gesprochen haben. Die Frage ist daher für mich: Hat Jesus auch Griechisch verstanden oder gar gesprochen? Ich weiß es nicht. Seit 63 vor Chr. war der Großraum Jerusalem in der Provinz Palästina römische Provinz unter römischer Besatzung. Der oberste Vertreter der verhassten Besatzer war zur Zeit Jesu Pontius Pilatus, von 26 bis 36 Präfekt in der Provinz Judäa. Vermutlich stammt er aus der italienischen Provinz Samnium. Pilatus sprach also Latein als Muttersprache.

Mehrfach wird im Neuen Testament über das Gerichtsverfahren Jesu vor Pilatus berichtet. Siehe beispielsweise: Lk 23,1-24. Für mich ist die Frage, in welcher Sprache das Verhör geführt wurde. In Latein? Oder in Aramäisch? In Lk 2,41-51 steht die bekannte Geschichte vom zwölfjährigen Jesus im Tempel. Die Geschichte endet mit dem Vers: „Jesus aber wuchs heran und seine Weisheit nahm zu und er fand Gefallen bei Gott und den Menschen. (Lk 2,52)“ – Das muss etwa im Jahr 9 unsrer Zeitrechnung gewesen sein.

Was Jesus in den ungefähr 18 Jahren seines Lebens bis zum ersten Auftreten als Prediger gemacht hat, davon wissen wir außer der vagen Andeutung in Lk 2,52 nichts. Es ist aber nicht völlig abwegig, Folgendes zu vermuten: Sepphoris war eine ansehnliche Stadt etwa 8 km nördlich von Nazareth. Um 3 vor Chr. wurde sie vom römischen Gouverneur von Syrien, Varus, völlig zerstört. (Das ist eben dieser Varus, der 9 nach Chr. bei der Schlacht im Teutoburger Wald unterging.) Herodes Antipas, ca. 20 vor Chr. bis 39 nach Chr., ließ die Stadt Sepphoris wieder aufbauen. (Hinweis: Dieser Herodes Antipas ist der Sohn des Herodes, der als Kindermörder von Bethlehem in der Bibel in Mt 2 mehrfach genannt wird. Herodes Antipas ist der Herodes, der im Neuen Testament insgesamt sechsmal genannt wird. Siehe zum Beispiel in Mt 14,1 oder Lk 3,1.)

Der Beruf Josefs wird im Neuen Testament zweimal mit „tekton“ angegeben (Siehe Mt 13,55 und Mk 6,3). Es war wohl Luther, der das nicht ganz zutreffend als Zimmermann übersetzt hat. Besser wäre wohl Bauleiter oder Polier. Jedenfalls konnte es gut sein, dass Josef, unterstützt von seinem Sohn Jesus, dort beim Wiederaufbau mitgewirkt hat. Die Auftraggeber waren aber wieder Römer, die Latein sprachen. Ich fasse bis hierher zusammen: Jesus lebte in einem Umfeld, in dem außer seiner Muttersprache Aramäisch vielfach Griechisch und Latein gesprochen wurde. Die Sprache der Synagoge war Hebräisch. Sprachen wie Arabisch und Koptisch und Amharisch kamen gewiss auch vor.

Ich kenne bisher keine Überlegungen, wie weit Jesus selbst diese Vielfalt an Sprachen verstand oder gar selbst sprach. – Der Versuch der Rekonstruktion des Textes des Vaterunser in Aramäisch scheint gescheitert. Wir stehen nach wie vor vor der bisher ungelösten Aufgabe, die Vaterunser-Bitten, die Jesus formuliert hat, dem Sinne nach in deutscher Sprache auszudrücken. Wenn man aber konservativ katholisch ist, hat man es einfach. In der katholischen Kirche ist die lateinische Version der Bibel, die Vulgata, die maßgebliche Textgrundlage für alle anderen Übersetzungen in lebende Landessprachen und für die Liturgie. Das Konzil von Trient hat das 1546 ausdrücklich durch Beschluss bestätigt. Das Vaticanum II hat diesen Beschluss wiederholt. In seinem Auftrag wurde die „Nova Vulgata“ 1979 veröffentlicht. Da heißt dann die hier besprochene Stelle in Mt 6,13: „et ne nos inducas in tentationem“. Das kann man nur übersetzen mit „und Du mögest uns nicht in Versuchung führen“.

Damit sind wir aber wieder genau bei meinem polemischen Satz: „Wir prüfen nichts und behalten das Alte.“ Ich lade Sie, die Leser dieses Textes, zu einem Gedankenexperiment ein. Nehmen Sie sich sieben Minuten Zeit und versuchen Sie sich vorzustellen: Aus der Umgebung, in der Sie sich gerade aufhalten, sind alle materiellen Dinge, die aus Kunststoff und künstlichen Fasern sind, und alles, was irgendwie mit elektrischem Strom funktioniert, verschwunden. Beide Sachen gab es zur Zeit Jesu nicht, auch nicht in Vorstellungen, die wir heute als Sciencefiction bezeichnen. Wenn Sie dieses Gedankenexperiment wagen, finden Sie sich bald nackt auf steinernem Boden. Fast alle sonst vertrauten Dinge sind verschwunden.

Wenn wir uns aber schon sehr schwer vorstellen können, welche heute ganz selbstverständlichen Dinge es zur Zeit Jesu nicht gab, so fällt es erst recht schwer, sich das soziale und politische und religiöse Umfeld der Zeit Jesu im Großraum Jerusalem vorzustellen. Jeden Tag verändert sich unsere Welt rasant. Sie entfernt sich immer schneller von den Lebensumständen, in denen Jesus lebte und predigte. Es muss daher erlaubt sein, immer wieder neu darüber nachzudenken, wie und was wir heute beten können und sollen. – Wir dürfen auch darüber spekulieren, wie Jesus heute das „Gebet des Herrn“ formulieren würde. Ich mache den Herren Professoren, die am 22. Januar in der Karl-Rahner-Akademie diskutierten, den Vorwurf, dass das Gespräch allzu theoretisch war und die Diskussion sich in den sprachlichen Formulierungen festkrallte.

Versuchung? Das ist stets eine komplexe Geschichte. Dazu gehört zunächst eine Person, die versucht wird, etwas zu denken oder zu tun, was nicht in Ordnung ist. Es gehört dazu eine ganz bestimmte Situation. Dazu gehört eine andere Person, die die Versuchung plant und ausführt. Manchmal ergibt sich Versuchung auch einfach nur so. Ich möchte das an drei Beispielen ausführen. Dabei wage ich auch ganz persönliche Anmerkungen. Ich bitte das zu respektieren. Da gibt es seit etwa drei Jahren im Fernsehen einen Werbespott, der mich immer wieder beeindruckt. Da läuft eine sehr ansehnliche junge Frau im knappen gelben Bikini an einem Strand entlang. Ihre prallen Brüste schwingen im Takt der Schritte. Vor ihr läuft ein Hund aus für mich undefinierbarer Rasse. Der Hund ist unverkennbar zu fett. Ich bin versucht, mir vorzustellen, wie das aussieht, wenn die Frau völlig unbekleidet wäre. Dazu fällt mir der Bibelvers ein: „Ich aber sage euch: Jeder, der eine Frau ansieht, um sie zu begehren, hat in seinem Herzen schon Ehebruch mit ihr begangen (Mt 5,28)“. Mir geht auch der Satz nicht aus dem Sinn: „Und hoch... sah ich unter meinen glühenden Zärtlichkeiten den königlichen Busen wogen.“ – So beschreibt Thomas Mann die lustvolle Verführung des jungen Hochstaplers Felix Krull durch eine reife Frau (aus Thomas Mann, Die Bekenntnisse des Hochstaplers Felix Krull, 1954). Versucher ist in diesem Fall ein Mann aus einer Werbeagentur, der mich dazu verführen will, ein ganz bestimmtes Produkt oder eine Dienstleistung zu kaufen.

Mir fällt nur dabei ein, dass spätestens nach 30 Sekunden bei mir völlig unklar ist, was da beworben werden soll. Der Aufhänger der Werbung, die junge Frau am Strand, ist so sexistisch aufgeladen, dass mindestens bei mir der Werbezweck in eine völlig falsche Richtung geht. Ich kann auch nicht schnell zum Zapper greifen und den Spot abschalten, denn er ist nach spätestens 8 Sekunden vorüber. Es bleibt bei mir dauerhaft der Eindruck einer Versuchung haften, zu „sündigen in Gedanken“, wie die Formulierung immer so schön heißt. „Und führe uns nicht in Versuchung!“ – Die Vaterunser-Bitte passt hier irgendwie nicht.

Hinweis 1: Wird Frau auf die Netzhäute der Augen eines gesunden, erwachsenen Mannes, gleich welchen Alters, abgebildet, so kommt in maximal 0,6 Sekunden ein umfangreicher physiologischer Prozess in Gang. Es wird unter anderem eine Portion Hormone ausgeschüttet und der Blutdruck steigt. Es dauert etwa eine weitere Sekunde, bis dieser Vorgang im Bewusstsein des Mannes ankommt. Dann beginnt auch die Versuchung, damit unkontrolliert umzugehen. Zu allen Zeiten gab und gibt es religiöse und gesellschaftliche Regeln, wie man mit diesem natürlichen Vorgang umgeht. So finden sich entsprechende gesetzliche Regelungen auch im Strafgesetzbuch.

Hinweis 2: Es genügt auch, wenn das Bild einer wenig bekleideten Frau auf die Netzhäute eines Mannes abgebildet wird. Darauf beruht der Erfolg der Pornografie.

Hinweis 3: Auch die bloße diffuse Beleuchtung des Auges mit rotem Licht löst diese physiologische Reaktion aus. Das ist der Grund dafür, dass Lokalitäten, in denen Frauen sich gegen Geld vergewaltigen lassen, überwiegend rot beleuchtet sind; man spricht also nicht umsonst vom Rotlichtmilieu. – Der Macher der oben angeführten Werbung kennt das vermutlich nicht, sonst wäre der Bikini der Schönen am Strand karmesinrot.

Marianne heißt die wundervolle Frau, mit der ich seit mehr als 52 Jahren glücklich verheiratet bin. Beim Frühstück ergibt sich fast immer dieses Gespräch: „Was koche ich denn heute Mittag?“ – „Ich seh mal zu, was ich im Garten finde.“ – Dann bringe ich eine kleine Sammlung von Salaten, frischen Gewürzen, Gemüsen und Früchten auf die Arbeitsplatte in der Küche. Marianne setzt sich an den Computer und sucht nach passenden Rezepten. Dann zeigt sich einer ihrer hervorragenden Vorzüge. Sie zaubert aus den Zutaten, die ich einfach so anschleppe, jeden Tag eine unübertreffliche, neue vegetarische Köstlichkeit. Wenn es denn zum Essen geht, kommt gewiss der Zeitpunkt, nach dem ich immer noch weiter esse, aber nur, weil es so gut schmeckt, nicht etwa, weil ich noch Hunger hätte. Dieser liebevollen Versuchung erliege ich regelmäßig. So wird mein Übergewicht leider nie geringer. Übergewicht ist nichts Gutes für einen alten Mann. Die Versucherin hat nichts Böses im Sinn. Ich bin es selbst, der ausweichen könnte. – Da passt auch nicht zu beten: „Führe uns nicht in Versuchung!“

Am 1. November 1950 geschah es zum letzten Mal, dass ein Papst ein richtiges Dogma verkündete. Es war Papst Pius XII. Die entscheidenden Sätze des Dogmas stehen am Ende des Textes. Sie lauten: „Definition des Glaubenssatzes: Nachdem Wir nun lange und inständig zu Gott gefleht und den Geist der Wahrheit angerufen haben, verkündigen, erklären und definieren Wir zur Verherrlichung des Allmächtigen Gottes, dessen ganz besonderes Wohlwollen über der Jungfrau Maria gewaltet hat, zur Ehre seines Sohnes, des unsterblichen Königs der Ewigkeit, des Siegers über Sünde und Tod, zur Mehrung der Herrlichkeit der erhabenen Gottesmutter, zur Freude und zum Jubel der ganzen Kirche, kraft der Vollmacht Unseres Herrn Jesus Christus, der heiligen Apostel Petrus und Paulus und Unserer eigenen Vollmacht: Die unbefleckte, immerwährend jungfräuliche Gottesmutter Maria ist, nachdem sie ihren irdischen Lebenslauf vollendet hatte, mit Leib und Seele in die himmlische Herrlichkeit aufgenommen worden.“ Es folgt unverzüglich eine Strafandrohung: „Wenn daher, was Gott verhüte, jemand diese Wahrheit, die von Uns definiert worden ist, zu leugnen oder bewusst in Zweifel zu ziehen wagt, so soll er wissen, dass er vollständig vom göttlichen und katholischen Glauben abgefallen ist.“

Ich glaube das nicht. Ich kann das nicht glauben. Den Himmel, in den Maria, die Mutter Jesu aufgenommen sein soll, den gibt es so nicht. Sobald dieser Satz irgendwo im Internet öffentlich auftaucht, bin ich automatisch aus der katholischen Kirche ausgeschlossen, rausgeworfen und exkommuniziert. Ich darf aber noch so lange Kirchensteuer zahlen, bis ich nicht selbst den Kirchenaustritt vor einer deutschen Behörde erkläre. Die katholische Kirche kann nicht bewirken, dass ich gleichsam von Staats wegen aus der Liste der Zahler katholischer Kirchensteuer ausgeschlossen werde.

Hier wird eine Eigenart des katholischen Kirchenrechts sichtbar, die sonst unbekannt ist. Im Recht der katholischen Kirchen gibt es die Tatstrafe. Im CIC, dem Rechtsbuch der katholischen Kirche, sind zahlreiche Fälle aufgelistet. Mit dem Begehen einer Straftat im Sinne des CIC ist die Tatstrafe verhängt und rechtswirksam. Es gibt in diesen Fällen keinerlei Gerichtsverfahren; es gibt auch keine Berufungsmöglichkeit. Dadurch, dass ich die Lehre des Dogmas leugne, begehe ich eine Straftat im Sinne des CIC, die als Tatstrafe den sofortigen Ausschluss aus der Kirche nach dem Dogma des Pius XII. nach sich zieht. Wäre ich ein Professor der katholischen Kirche, würde mir sofort die Erlaubnis entzogen, im Auftrag der Kirche zu lehren.

Was hat das aber mit Versuchung zu tun? Hier ist ganz eindeutig Papst Pius XII. der Versuchung der Macht erlegen. Er missbrauchte die Macht, die ihm durch das Dogma von der Unfehlbarkeit vom Juli 1870, beschlossen auf dem Vaticanum I., gegeben wurde. – Papst Pius XII. war verfangen in den Vorstellungen von Himmel um 1800. Er hätte es besser wissen können. Sein Berater in diesen Fragen war George Lemaitre (1894 - 1966). Dieser war katholischer Priester, Weihe 1923. Damals gab es in Europa vielfach Priesterüberschuss. Sein Bischof erlaubte ihm daher gerne, Physik und Ingenieurswissenschaften weiter zu studieren. Lemaitre war an der Entwicklung der Vorstellung des expandierenden Universums in der ersten Hälfte des 20 Jahrhunderts maßgeblich beteiligt. Er hat seine Astrophysik und die Theologie immer fein säuberlich zu trennen versucht. Ein von ihm gerne zitierter Bibelvers ist Jes 45,15. Lemaitre formuliert das für sich als: God is essentially hidden. Jedenfalls ist bekannt, dass Lemaitre auf Grund seiner Kenntnisse Papst Pius XII. von der Definition der Aufnahme Mariens in den Himmel abgeraten hat.

Nachträge: „Das ist aber jetzt eine andere Baustelle!“ – Mit dem Satz verhinderte einer der Professoren die Erweiterung der Diskussion auf andere Bereiche des Vaterunser. – Ja, in dem Sinne ist das „Gebet des Herrn“ eine einzige Großbaustelle. Es eröffnet gerade für die Karl-Rahner-Akademie ein weites Themenfeld. Wenn ich Texte wie diesen vorlege oder an einer Diskussion teilnehme, werde ich durchaus gefragt: „Gatzen, wo haben sie eigentlich Theologie studiert?“ – Ich habe während meines Hochschulstudiums an der Uni Köln keine einzige Vorlesung in Theologie gehört.

Die Deutsche Bischofskonferenz hat im Januar 2015 nach eher kurzer Beratung beschlossen, den Text der Übersetzung des Vaterunser nicht zu ändern. – Wenn es aber doch zu einer Änderung käme, sollte die im deutschen Sprachraum für alle christlichen Kirchen und Gemeinschaften gleich sein. Alles andere wäre ein verheerendes Signal gegen die Ökumene. Ich bin gleichsam ein „Verbraucher“ theologischer Lehre. Ich würde mir wünschen, dass Menschen wie ich viel häufiger mit Lehrern der Theologie öffentlich ins Gespräch kommen. Ebenso träume ich beispielsweise von einer Diskussion mit Herrn Kardinal Brandmüller über den Zölibat.

Wilhelm Gatzen, Jahrgang 1937, verheiratet, 4 Kinder, 10 Enkel, ist Diplom-Physiker; von Anfang an Mitarbeiter der Deutschen Kirchenvolksbewegung „Wir sind Kirche“, dort zuständig für die Themengruppen Menschenrechte und Zölibat. – Grundkenntnisse in Verfassungsrecht und Kirchenrecht, Spezialist für Rückkehr zu einer ökologischen Landwirtschaft.