Das Dogma – ein Krebsgeschwür der katholischen Kirche#
Von
Jacques Meurice
Aus: Gedanken zu Glaube und Zeit Nr. 199/2016
Die katholische Kirche ist krank, sehr krank. Es ist ein Krebsgeschwür, das sie bedroht: ein fortschreitendes Erwürgen. Dieser Krebs ist das Dogma. Das Dogma, durch welches bestätigt wird: das ist eine Gewissheit. Die Gewissheit, die Wahrheit zu besitzen – oder zumindest ein Stück davon. Über ein Dogma diskutiert man nicht. Vor dessen Proklamation vielleicht, aber nie mehr danach. Entweder nimmt man es an oder man verwirft es. Es gibt keine Alternative zum Dogma, kein Zurechtrücken, keine Revision oder Reform. Wenn eine Gruppe von Menschen sich auf die Praxis eines Dogmas einlässt, trennt sie sich von vielen anderen, die sich ihm aus verschiedenen Gründen nicht unterwerfen. Das Dogma hat Ausschluss zur Folge. Das Dogma vermehrt sich auch: Es zieht andere fast bis zur Unendlichkeit mit sich. Es ist unersättlich und bringt zahlreiche Weiterungen mit sich, d.h. viele andere Dogmen, ergänzende oder abgeleitete. Der große Jammer der katholischen Kirche ist es, dass sie dem Dogma nie misstraut hat.
Und doch gibt es nichts dem Denken Christi Fremderes als das Dogma. Seinerzeit die Sadduzäer und Pharisäer eine bestimmt Anzahl von Grundsätzen betont, die immer genauer wurden,– aber es war typisch für die Art Jesu, sich von solchen Positionen zu distanzieren. Zum Beispiel betreffend den Sabbath, an dem man dem Nachbarn nicht zu Hilfe kommen durfte, oder Menschen, mit denen man sich nicht abgeben durfte. Oder betreffend die rituellen Opfer, die im Tempel von Jerusalem praktiziert wurden, bzw. die vielen Vorschriften, die man als anständiger Mensch einhalten musste. „Wehe euch, ihr Pharisäer, die ihr den Zehnten von Minze, Raute und allen Gewürzen und Gemüsen bezahlt, aber Gerechtigkeit und Gottesliebe missachtet...“ (Lk 11,42). Christus zog ohne Zweifel das Leben mit seinen Umwegen, Wendungen, Wechseln und seiner Relativität dem Absoluten, der Starre, der Fixierung und dem Hochmut der Dogmen vor.
Die Kirche Christi und der Apostel ist fast drei Jahrhunderte ohne Dogmen ausgekommen. Das Neue Testament, das Evangelium, genügte anscheinend. Auch wenn die ersten dogmatischen Festlegungen auf einem Konzil gemacht wurden, nämlich dem ersten Ökumenischen Konzil von Nizäa im Jahr 325 in Kleinasien (heute Türkei), waren sie nicht das Werk von Bischöfen, sondern eines Kaisers, Konstantins, der seinen Willen durchsetzen wollte. Dafür hatte er 250 Bischöfe zusammengerufen und übernahm in ihrer Versammlung den Vorsitz. Papst Silvester I. war übrigens nicht dabei. Er wollte Rom nicht verlassen. Und dennoch wird der Text der Konzilsbeschlüsse, bekannt unter dem Namen „Glaubensbekenntnis von Nizäa“, das ursprüngliche Credo der Christen, in allen katholischen Kirchen bis heute gebetet.
Tatsächlich war es aber das Werk Konstantins, der als Kaiser das Debakel der griechischen und römischen Religionen erlebt hatte und eine neue monotheistische Religion errichten wollte, besser angepasst und günstiger für die Einheit des Reiches. Um die Zustimmung der Bischöfe zu erreichen, versprach er ihnen Rang und Privilegien, ähnlich denen von Präfekten und Prokuratoren – mit der Absicht, sie in Zukunft selber zu ernennen. Der Kaiser war nicht einmal Christ; er wurde viel später auf seinem Totenbett noch schnell getauft. Von Anfang an waren die Dogmen eine Frage der Autorität und der politischen Macht. Man begann sogleich, die Gegner zu verurteilen und Arius, einen sehr frommen Priester aus Alexandrien, der den Fehler gemacht hatte, die Gottheit Jesu zu leugnen und die Trinität nicht anzuerkennen, zu exkommunizieren. So war es auch bei vielen anderen Dogmen, die meist aus Gründen des Prestiges oder der Macht verkündet wurden und ohne Unterlass die Christen trennten. Die zuletzt verkündeten waren übrigens der Gipfel davon: Die Unfehlbarkeit des Papstes, die Unbefleckte Empfängnis und die Himmelfahrt Mariens waren einfach Waffen, die man gegen die Feinde verwenden konnte. Sie taten nichts als den Graben zu erweitern, der Katholiken, Protestanten, Anglikaner, Orthodoxe usw. trennt.
Fallweise fügten der Papst, der Kaiser oder das Konzil zu den Dogmen auch noch Disziplinarmaßnahmen für jene hinzu, welche die Dogmen nicht respektierten. All das findet man im Kanonischen Recht. Und die Inquisition machte schlimmsten Gebrauch davon.
Natürlich kann man sagen: Das ist vergangen, die Dinge sind verschwunden, wie das Mittelalter von der Renaissance verdrängt wurde und diese wieder von der modernen Zeit. Die Theologen würden sagen, dass die Kirche immer reformbedürftig war, semper reformanda, sie könnten auch sagen, dass sie nie jemals reformiert wurde, numquam reformata, außer durch die, welche sie verlassen haben!
Papst Franziskus wünschte brennend, dass sich die Kirche ändere, dass sie sich der Welt öffne, dass sie ihre Berufung wieder finde, welche bedeutet, für die Armen und mit den Armen zu leben. Aber er wünschte auch, dass man nicht die Lehre, die Riten, die Sakramente angreife … ohne Zweifel, weil er nicht damit rechnen kann, aufgrund einer genügenden Mehrheit von Progressisten und Reformern zu handeln, wie es leider die letzte Synode von Rom gezeigt hat. Jorge Bergoglio hat eine starke Opposition gegen sich, welche das Dogma als Waffe benutzt und um jeden Preis eine traditionelle Gestalt der Kirche bewahren will, mit allen Gebräuchen und Privilegien, die das mit sich bringt. Wenn man das weiß, muss man erkennen, dass Jorge Bergoglio eine “Mission impossible” anvertraut bekommen hat. Jesus selber hätte es nicht machen wollen – er, der sich geweigert hat, die Hohepriester, Leviten und Pharisäer anzugreifen: den Klerus und die Hierarchie seiner Zeit, seines Volkes.
Dietrich Bonhoeffer, der größte protestantische Theologe des 20. Jahrhunderts, von den Nazis im April 1945 im Konzentrationslager Flossenburg hingerichtet, hatte er nicht Recht, wenn er dachte, dass das Christentum keine Religion sei? Es könnte nur eine Philosophie im eigentlichen Sinn sein, eine Lebensweisheit, eine prophetische Botschaft für die Zukunft von Mann und Frau. Das konnte es aber wieder nicht so sein, wie es die Väter der Kirche sahen. Denn die wahren Kirchenväter sind nicht die, welche man üblicherweise dafür hält, sondern viel eher Konstantin, Clovis (Chlodwig) und Karl der Große, die drei großen C, wie in „Catholique“. Man hat aus dem Evangelium Jesu einfach eine neue Religion gebastelt, ähnlich wie die anderen – mit Klerus, Hierarchie, Riten, etwas Heiligem, Sakramenten, Tempeln, Opfern,...
Eine echte Reform, ist sie überhaupt möglich? Man müsste zu den Ursprüngen zurückkehren, die Doktrin demontieren, das ganze kirchliche Gewebe wegreißen, die Wahrheit wieder suchen, von der Jesus zu Pilatus gesagt hat, dass er für sie geboren sei. Man müsste, aber das ist vielleicht unmöglich, sämtliche dogmatischen Formulierungen in Frage stellen. Denn, wie es Albert Jacquard sagte und schrieb, es gibt kein Dogma, das wirklich standhalten könnte – gegenüber der Naturwissenschaft, unserer Erkenntnis der Evolution, den Fortschritten der Geschichte und der Archäologie, der Psychologie und Psychoanalyse, dem Streben von Männern und Frauen nach Freiheit und Gleichheit durch Gerechtigkeit, nach Geschwisterlichkeit auf dem ganzen Planeten...
Was also? Ohne Chemotherapie wird das Dogma der Kirche weiterhin zusetzen, bis sie erstickt ist. Das Dogma lässt keinen Platz für Diskussion, es widersetzt sich dem „Relativismus“. Aber das ganze Menschenleben ist relativ, es rechnet mit Änderungen in der Gesellschaft, es passt sich neuen politischen Gegebenheiten an, es entwickelt sich durch Denken neue Ideen – und Jesus hat das bereits wohl verstanden...!
Was folgt daraus? Man muss suchen, neu beginnen, abmontieren und frisch aufbauen, auch wieder zweifeln, die Sachen anders angehen, bereit sein, den Irrtum oder die Sackgasse zu erkennen. Man muss sich der Zukunft zuwenden, neu erfinden, etwas wagen...
Wir haben noch nicht gewonnen.
Anmerkung des Übersetzers:#
Dieses Bild ist dem französischen Text beigefügt. Links sind die drei Kaiser/Könige Clovis (Chlodwig), Karl der Große und Konstantin zu sehen, rechts ein kicherndes Teufelchen.
Clovis sagt: „Sag, Charly, die Kirche ist anscheinend in einem ziemlich üblen Zustand!“ - Karl der Große antwortet: „Du hast Recht, Clo-Clo, es fehlt an Autorität. Was meinst du, Konstantin?“ – Der sagt: „Es wird Zeit, dass man ein neues Dogma verkündet, um die Ordnung wieder zu festigen! Aber wer soll das machen?“
Die Stimme Gottes /rechts oben): „Konstantin, Clovis, Karl der Große: Mit euch wird es immer schlimmer. Wenn ihr so weiter tut, werdet ihr nicht einmal mehr ein Recht haben, zu herrschen / im Gottesreich zu sein! (Wortspiel: royaume = Königreich, Reich Gottes)
Jacques Meurice, geboren 1938 in Wavre (Wallonisch - Brabant) 1962 zum Priester geweiht, war als Arbeiter-Seelsorger tätig, dann verheiratet, gilt als „Basisaktivist“.